Gipfeltreffen: Stärke oder Ohnmacht?
Am Donnerstag haben sich in Brüssel die Vertreter von Nato, EU und G7 getroffen, um in erster Linie über das weitere Vorgehen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu beraten. Im Vorfeld hatte der ukrainische Präsident Selenskyj erneut um schwere Waffen gebeten. Diese Forderung bleibt weiterhin unerfüllt. Gleichzeitig verständigten sich die Nato-Mitglieder auf eine massive Aufrüstung. Die europäische Presse wertet das Gipfeltreffen aus.
Ganz miese Bilanz für Putin
Polityka befindet:
„Ein schlechter Tag für Wladimir Putin. Nicht nur, dass er einen Monat, nachdem er den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, diese weder besiegen noch dazu zwingen konnte, seine Forderungen zu akzeptieren; nicht nur, dass er an diesem Tag mindestens zwei Schiffe in einem der Ukraine entrissenen Hafen verloren hat; nein, er bekam auch ein 'Geschenk' von der Nato in Form von mehr und besser bewaffneten Bündnistruppen in der Nähe seiner Grenzen. ... Das muss ein Alptraum für ihn sein, wenn man daran denkt, dass er, als er diesen völkerrechtswidrigen Krieg begann, zwei Hauptziele anführte: die Unterwerfung der Ukraine und die Zurückdrängung der Nato.“
Nato lebendiger denn je
El Mundo betont die große Verantwortung, vor der die Militärallianz jetzt steht:
„Die größte militärische Organisation der Geschichte, deren eigentliche Daseinsberechtigung der Schutz der demokratischen Ordnung und die Abschreckung totalitärer Bedrohungen ist, muss ihre Macht verantwortungsbewusst einsetzen, wenn ein atomar bewaffneter, psychopathischer Imperialist wie Wladimir Putin auf der anderen Seite der Grenze steht. ... Alles hat sich geändert, und heute ist die Nato lebendiger denn je, um die Werte zu verteidigen, für die die Ukraine kämpft und deretwegen Russland einmarschiert. ... Der Krieg wird den liberalen Demokratien noch neue Prüfungen der Entschlossenheit und der Opferbereitschaft abverlangen. ... Wir sollten auf der Höhe der Zeit sein.“
Der Westen stößt an seine Grenzen
Denník N fasst den Gipfeltag in Brüssel so zusammen:
„Neben der Stärkung ihres Ostflügels haben die Nato-Führer vereinbart, der Ukraine Panzerabwehr- und Luftverteidigungssysteme sowie Drohnen zur Verfügung zu stellen. Kampfflugzeuge dagegen weiterhin nicht. Noch unerfreulicher war es bei der EU. Schon vor dem Gipfel waren die Staats- und Regierungschefs in der Frage des russischen Energieembargos gespalten. Während der lettische Premierminister sagte, die Union solle einem Embargo zustimmen, weigerte sich der niederländische Premierminister, russisches Öl oder Gas abzudrehen, und erwartete keine Einigung über neue Sanktionen. Der Westen scheint langsam an seine Grenzen zu stoßen. Die Empörung bleibt, aber ein größeres Risiko will er nicht mehr eingehen.“
Unbequeme Ohnmacht
Die Angst vor einer weiteren Eskalation bindet der Anti-Russland-Koalition die Hände, beobachtet Le Soir:
„'Der Schritt zu viel, der alles außer Kontrolle bringt'? ... Nato, G7, EU - alle sprechen von der Möglichkeit eines biologischen, chemischen oder nuklearen Angriffs Russlands. Einen Monat nach dem illegalen Einfall Putins in der Ukraine kann keiner sagen, dass sich eine Wende abzeichnet. Und während uns täglich Bilder namenlosen Horrors aus der Ukraine erreichen, spiegelt die virtuelle Weltreise des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der seine unbefriedigten Forderungen wiederholt, Tag für Tag die unbequeme Ohnmacht wider.“
Zurückhaltung ist wichtig
Dass die Nato sich in den Konflikt nicht direkt einmischen will, ist für die regierungsnahe Magyar Nemzet eine vernünftige Haltung:
„In Brüssel wurde eine nüchterne Entscheidung getroffen. Die Nato steht der Ukraine zur Seite, ist jedoch bemüht, eine Ausweitung des Kriegs auf das Gebiet der Nato zu verhindern. Man hat den ungarischen Standpunkt, dass das Land keine Waffen ins Nachbarland liefert und auch keine Waffenlieferungen durchlässt, akzeptiert. ... Wir wissen nicht, was die Zukunft in diesem Krieg noch bereithält, aber wir [Ungarn] wollen nicht in diesen Krieg geraten.“
Polen hat es auf die Westukraine abgesehen
Das kremlnahe Portal Wsgljad unterstellt der polnischen Regierung böse Absichten, wenn sie sich für eine militärische Friedensmission einsetzt:
„Experten schließen eine totale Desintegration der Ukraine nicht aus - und dann, so hoffen manche in Polen, kann man Russland vorschlagen, den russophoben Westteil der Ukraine unter polnische Kontrolle zu stellen. Sollte der Kreml dem zustimmen, kann Warschau dort seine Friedenstruppen stationieren und erhält auf diese Weise ein Mandatsgebiet. ... Es gibt auch ein Maximalprogramm: Das Gebiet der Ukraine kann im Falle einer Desintegration des Staates nicht lange 'herrenlos' bleiben. ... In diesem Falle bekäme Warschau das Recht, den westlichen Verwaltungsgebieten vorzuschlagen, 'selbstbestimmt' Polen beizutreten.“
Die Stunde der Wahrheit
Der Gipfel wird zeigen, wie viel den USA noch an der Nato liegt, betont Le Figaro:
„Wie sein Vorgänger Donald Trump wollte Joe Biden nicht die Welt retten, und erst recht nicht Europa. ... Nun schlägt die Stunde der Wahrheit: Werden die USA nach Europa zurückkehren, selbst wenn sie dafür die Rivalität mit China etwas vernachlässigen müssen? Oder werden sie ihren Verbündeten zu verstehen geben, dass es Zeit ist, ohne sie auszukommen? Für die Nato geht es hier um ihre Daseinsberechtigung: Wie sieht die Zukunft eines Militärbündnisses aus, das sich derartig vor Krieg fürchtet, dass es keine rote Linie für den Gegner zieht? Dabei wäre das der beste Weg, uns zu schützen: Putin zu verstehen geben, dass er nicht alle Karten in der Hand hält.“
Ein geopolitisches Geschenk für Biden
Biden erwartet ein Europa, das nun bereit ist, sich selbst zu verteidigen, analysiert Corriere della Sera:
.„Mit der Beschwörung der Atomwaffe durch Putin ist die Vorstellung, man könne sich dank 'soft power' nur mit der Qualität der eigenen Zivilisation verteidigen, in den Bereich der Märchen der Vergangenheit verwiesen worden. … Für Biden ist dies wirklich ein geopolitisches Geschenk. Dank Putin wird er weniger Grund haben zu vermuten, dass irgendein Verbündeter ein doppeltes Spiel treibt. So kann Biden mehr Verantwortung für die Verteidigung des Kontinents an die Europäer delegieren, was es ihm ermöglicht, sich stärker auf die entscheidende Herausforderung mit China zu konzentrieren und gleichzeitig die unverzichtbare Führungsrolle in der Nato zu behalten“
Ungarn ist besorgt
Für Hvg ist die Nato die einzige Hoffnung für den Ernstfall:
„Was ist der Unterschied [zwischen Ungarn und der Ukraine]? Dass Ungarn Nato-Mitglied ist? Ja, das ist der Unterschied. Aber reicht das aus? Würden diejenigen, die jetzt den Standpunkt einnehmen, dass man den Luftraum [über der Ukraine] nicht schließen soll, weil man damit eine unabsehbare Eskalation des Krieges riskieren würde, anders denken, wenn es um das Nato-Mitglied Ungarn gehen würde? ... Wir können darauf nur hoffen, denn das ist unsere einzige Hoffnung.“
Nato ist nicht alles
Der Redakteur der Ukrajinska Prawda Serhij Sydorenko und die Chefredakteurin der Ukraina Analytica Hanna Shelest setzen nicht auf ein alternatives Sicherheitsbündnis:
„Wenn die USA, Polen oder Großbritannien auf unserer Seite in den Krieg eintreten wollten, bräuchten sie dafür kein neues Bündnis. Die Nato-Mitgliedsstaaten sind frei, in dieser Angelegenheit selbst zu entscheiden und können dies auch ohne die Zustimmung der Verbündeten tun. In der Praxis wollen sie uns leider nicht einmal Flugzeuge zur Verfügung stellen, mit der einfachen Begründung, dass die Ukraine kein Mitglied der Nato ist.“
Skeptiker sind nicht gleich Putinisten
Die überschwängliche Zustimmung zur Nato-Mitgliedschaft schadet der Debatte in Finnland, beklagt Helsingin Sanomat:
„In dem Maße, in dem sich die öffentliche Meinung änderte, tauchte in der Nato-Debatte ein neues Problem auf: Die Nato-Gegner haben Angst, sich zu äußern. … Die Nato-Befürworter verkünden lautstark ihre Position, aber viele derjenigen, die in der Vergangenheit gegen die Nato waren, beißen sich nun auf die Zunge. Dies kann aus Vorsicht oder Angst geschehen. In der aufgeheizten Atmosphäre werden die Nato-Skeptiker schnell als Putinisten abgestempelt. Die Nato-Mitgliedschaft mag eine kluge Entscheidung sein, aber es gibt auch schwerwiegende Argumente dagegen. Wir sollten uns daher beide Seiten anhören.“
Warum erst nach der Katastrophe?
Die westlichen Demokratien zeigen ihre Einigkeit verspätet, analysiert Dagens Nyheter:
„Putin ist nicht der einzige autoritäre Führer, der die internationale Ordnung in Frage stellt. Xi Jinping hofft auch, Europa und die USA gegeneinander ausspielen zu können. ... Eine akute Krise hätte nicht erforderlich sein müssen, damit Washington und Brüssel zueinander finden. Hätte Putin die Invasion durchgeführt, wenn er erkannt hätte, dass der Westen geeint, schnell und mächtig handeln würde, wie er es tat? Oder hätte es ihn abgeschreckt? Es ist schwer, sich von dem Gedanken zu lösen, dass die Fähigkeit, Einigkeit erst nach der Katastrophe zu zeigen, einen sehr hohen Preis hat.“