Präsidentschaftswahl: Wie entscheidet Frankreich?
Im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl haben Umfragen zufolge der Amtsinhaber Macron und die extrem rechte Marine Le Pen die besten Aussichten, in die Stichwahl zu gelangen. Europas Presse kritisiert den Wahlkampf und schaut eher bang auf die zu erwartenden Ergebnisse.
Europa sollte genau hinschauen
Um die gemeinsame Front gegen Russland bangt Zeit Online:
„Als Präsidentin will Le Pen Frankreich aus den gemeinsamen Kommandostrukturen der Nato lösen. Frankreich würde damit zwar nicht aus dem westlichen Bündnis austreten, aber sehr wohl auf Distanz gehen. Die französischen Truppen, die bislang im Baltikum und in Rumänien stationiert sind, würden mutmaßlich zurückgezogen. Die Konsequenzen wären enorm: Die Nato, die gerade dabei ist, ihre Ostflanke zu stärken, wäre geschwächt; die Einheit des Westens dahin. Wladimir Putin würde sich freuen. Es klingt ein bisschen ausgelutscht und trotzdem ist es richtig: In Frankreich wird in den kommenden Wochen auch über Europas Zukunft entschieden. Besser, wir schauen hin.“
EU braucht Macron als Führungsfigur
Für das deutsch-französische Tandem wäre die Wiederwahl von Macron gerade zum jetzigen Zeitpunkt überaus bedeutsam, meint Denik N:
„Er ist vor allem derzeit eine wichtige politische Figur in Europa, weil sich der neue deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bislang noch nicht etabliert hat. Macron hat den Ehrgeiz, in Europa den Ton anzugeben. ... Frankreich ist zusammen mit Deutschland immer noch die treibende Kraft der Europäischen Union, gemeinsam können sie große Innovationen durchsetzen. ... Die Vorstellung, dass Macron gegen die Antieuropäerin und in EU-Dingen inkompetente Marine Le Pen verliert, ist ein Alptraum.“
Mehr interaktive Demokratie
Die Wissenschaftler Laurent Davezies, Alain Ehrenberg, Sylvain Kahn und Jacques Lévy fordern in Les Echos mehr interaktive Demokratie für die kommenden fünf Jahre:
„Es muss ein Raum für öffentliche Debatten geschaffen werden, der den Bürgern hilft, offen ihre Zukunft zu entwerfen. Nach dem 'Gleichzeitig!' [dem 'weder links noch rechts' von Macron] braucht es ein 'Nach vorn!'. Wir möchten mit all jenen, die sich in diesem Ansatz wiederfinden, die Entstehung eines dynamischen progressiven Zentrums fördern, im öffentlichen Raum und bei der Diskussion von Ideen. Den Horizont zu erweitern, ist Voraussetzung dafür, Schritt für Schritt in dem Tempo voranzukommen, in dem sich die Gesellschaft auch wirklich in Bewegung setzen kann.“
Marktliberalismus hat Arbeiter aufgegeben
Der Verrat an der Arbeiterklasse stärkt Kräfte wie Le Pens Rassemblement National, analysiert der Politologe Halil Karaveli in Expressen:
„Macron vertritt eine urbane Mittelschicht, die keine Solidarität mit der Arbeiterklasse mehr kennt. Die Demokratie in Frankreich wurde aber von der Arbeiterklasse gemeinsam mit dem progressiven Bürgertum errungen, und der Wohlfahrtsstaat fußte auf einer Klassenallianz zwischen Arbeitern und Angestellten. In Frankreich ist diese Allianz völlig aufgelöst. ... Als die Sozialistische Partei in Richtung Marktliberalismus schwenkte, begannen auch die Rechtsextremen zu wachsen und Wähler aus der Arbeiterschicht zu gewinnen. ... [Macrons] Rechtsliberalismus ist keine langfristig tragfähige Strategie, um die Demokratie vor der Bedrohung durch die extreme Rechte zu schützen.“
Verlorene Grandeur interessiert nur die Medien
Dem Frankreich-Kolumnisten von NRC Handelsblad, Bas Heijne, fällt auf, dass die prominent geführte Debatte um den vermeintlichen Verlust der französischen Grandeur an den Sorgen der Bürger vorbeigeht:
„Man hört davon im Fernsehen und auf Twitter, man liest darüber in Büchern und gewichtigen Zeitschriften, aber selten im täglichen Leben. ... Worüber eine große Mehrheit der Franzosen sich Sorgen macht, ist aber ihre 'Art zu leben', eine eher schwer greifbare Form von Identität. Jetzt ist alles noch ziemlich in Ordnung, aber bleibt das auch so? Genau das muss der Grund dafür sein, warum die theatralischen Unheilsverkündungen von Zemmour und den Seinen so übermäßig viel Aufmerksamkeit bekommen, warum es in den Medien ständig darum geht, ob die europäische Flagge am Arc de Triomphe hängen durfte.“
Franzosen haben andere Sorgen als Einwanderung
Die von den Rechtsextremen dominierten Debatten sind für die Wähler kaum relevant, beobachtet Mérce:
„Die wichtigsten Probleme der Franzosen sind gewissermaßen die 'Kaufkraft' - also die Preise und Löhne -, sowie das Gesundheitswesen, das Rentensystem oder auch die Ukraine. Einwanderung hat nur kaum ein Viertel der Wähler als eines der drei wichtigsten Probleme genannt und die Laizität der Republik - angeblich vom Vordringen des Islams bedroht -, nur kaum ein Zehntel. ... Jedoch geht es in der Kampagne einstweilen vor allem darum, ob es eher der Feminismus sei oder doch eher der Antirassismus, die das Land libanonisieren und zerstören würden.“