Zerfällt die Welt wieder in zwei Lager?
Der russische Einmarsch in die Ukraine schürt Ängste vor einem neuen Kalten Krieg. Der relativ geschlossenen Reaktion des Westens stehen andere Machtinteressen gegenüber. Der chinesische Präsident Xi Jinping stellte sich am Donnerstag beim virtuellen Gipfel-Treffen der Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika hinter Russland. Kommentatoren analysieren die neuen Konstellationen.
Russlands zwiespältige Erfolgsbilanz
Russland hat innerhalb von drei Monaten die Weltordnung verändert - was dem Land nicht unbedingt gut tut, meint der Politologe Alexander Baunow in Kommersant:
„Noch vor kurzem waren die baldigen Nato-Mitglieder Finnland und Schweden ewig neutral, alsbald sollte Nord Stream 2 in Betrieb gehen, Jahr für Jahr wuchs die Zahl der Länder, die für Russen die Visa abschafften, RT war auf dem globalen Informationsmarkt erfolgreich, einige westliche Amtsträger erkannten insgeheim die faktische Zugehörigkeit der Krim an, in ukrainischen Schulen lasen alle - wie man inzwischen erfuhr - Puschkin und Tolstoi, und Litauen ließ reibungslos alle Frachten nach Kaliningrad durch. Bei dem Verändern der Weltordnung musste Russland feststellen, dass es nicht nur deren Opfer, sondern auch deren Teil und sogar Nutznießer war.“
Kooperation mit Moskau nicht für ewig ausschließen
Mit der wachsenden Stärke Chinas muss der Westen für eine Kooperation mit Russland bereit bleiben, schreibt Delfi:
„China wird seinen Einfluss auch in dem benachbarten Russland stärken. Das Szenario ist möglich, dass der Kreml seine Prioritäten in der Außenpolitik ändern wird und der Kampf gegen den Einfluss Chinas wichtiger sein wird, als die Konfrontation mit dem Westen. Russland könnte eine Außenpolitik gestalten, die Lukaschenka in den letzten Jahrzehnten führte, als er zwischen der EU und Russland manövrierte. Falls so ein Szenario sich verwirklichen sollte, muss der Westen bereit sein, aktiver mit dem Kreml zu kooperieren. Sonst besteht die Gefahr, dass sich im Osten Europas ein neues Russland formt: Chinas Vasallenstaat.“
Brics-Staaten bilden Gegenpol zur liberalen Welt
Der Westen sollte nicht überrascht sein, so Polityka:
„Allein die Organisation eines Brics-Gipfels mit der Teilnahme aller Mitglieder zu einem Zeitpunkt, an dem Russland gegen internationale Normen verstößt, kann empören. Das Problem ist, dass das nur eine euro-atlantische Sichtweise ist. Seit Jahrzehnten schaffen Putin und Seinesgleichen ihre eigene Ordnung, in der andere Spielregeln gelten als in der Nato oder der EU. Es wäre naiv zu glauben, dass diese Ordnung erst jetzt entsteht. ... Washington, Berlin oder Brüssel haben zu lange weg- oder einander angeschaut und diese anderen Ausrichtungen wirtschaftlicher und diplomatischer Zusammenarbeit ignoriert.“
Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen Polen
Der Krieg in der Ukraine ist bereits zu einem Stellvertreterkrieg geworden, analysiert Pierre Lellouche, ehemaliger Les Républicains-Abgeordneter, in einem Gastbeitrag für Le Monde:
„Was als lokaler Konflikt begann, der auf den Donbass und den Status der Ukraine beschränkt war, ist nicht nur zu einem äußerst zerstörerischen Krieg im Herzen Europas, sondern auch zu einem nicht offiziell erklärten Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland geworden, der jederzeit aus dem Ruder laufen kann. Durch seine Folgen in den Schlüsselbereichen Wirtschaft, Energie und Nahrungsmittel ist er auch zu einem globalen Krieg geworden.“
Gesellschaften werden auf die Probe gestellt
In Russland wähnt man sich zu Unrecht im Vorteil, was das Durchhaltevermögen betrifft, meint Radio Kommersant FM:
„Es heißt ja, der Russe sei alles gewohnt, während der launische Westler sofort loszieht, um seine Regierung zu stürzen. ... Diese These ist aber strittig. ... Wenn auch nicht mehrheitlich, aber das russische Volk hat schon von einem halbwegs erträglichen Leben gekostet. Und Europäer und Amerikaner sind nicht so primitiv, dass sie die demokratischen Werte gegen warme Wohnungen eintauschen. Wobei an der Beteuerung, die 'breite Masse' sei überall gleich und ihr die Butter auf dem Brot wichtiger als diffuse Ideale, auch etwas dran ist.“
Afrika nicht Russland und China überlassen
Europa muss sich in Afrika wieder stärker engagieren, meint der Tages-Anzeiger:
„Fragt man junge Afrikaner, was sie gern hätten, um sich selbst etwas aufzubauen, dann ist die Antwort oft die gleiche: stabilen Strom und günstige Kredite. Die gibt es in keinem Land des Kontinents. Auch nach Jahrzehnten der Entwicklungshilfe nicht. China, so sagen viele Afrikaner, ist zwar nicht perfekt, aber zumindest ehrlich, sie versprechen keine Demokratie, sie wollen nur unsere Rohstoffe, lassen uns aber zumindest Eisenbahnen und Strassen zurück. … Russland tut so, als habe es keine koloniale Vergangenheit und verspricht nichts, außer anders zu sein als Frankreich. Das reicht oft schon, um Zuspruch zu bekommen, weil viele nichts mehr erwarten von Europa.“
Kalter Krieg ist ein westliches Konzept
Expresso warnt Europa davor, in veralteten Mustern zu denken:
„Es gibt eine viel kompliziertere Welt, in der Indien, einige afrikanische Mächte und Lateinamerika - nachdem man inzwischen fast überall die linken oder rechten Diktaturen abgeschüttelt hat - nicht in dieses alte Schachspiel passen. Und sie sind ein großer Teil des Planeten. … Die falsche Vorstellung, dass wir zum Kalten Krieg zurückkehren, ist das Ergebnis des gleichen alten Fehlers: des Eurozentrismus. Der Krieg in der Ukraine ist aufgrund seiner Auswirkungen ein Problem für die Welt. Aber was in der Ukraine auf dem Spiel steht, ist ein europäisches Problem.“