Wie Scholz' Europarede in Ostmitteleuropa ankommt
In einer Rede an der Prager Karls-Universität hat sich Olaf Scholz erstmals ausführlicher zur Europapolitik geäußert. Der Bundeskanzler warb unter anderem für die Osterweiterung der Union, die Ausweitung der Mehrheitsentscheide unter den Mitgliedern und eine Vergrößerung des Schengenraums. Was bedeutet das für die Länder Ostmitteleuropas?
Polen wird selbstverschuldet immer schwächer
Die Auswirkungen der Vorschläge von Scholz auf Polen kommentiert Rzeczpospolita:
„In einem System der Mehrheitsentscheide wird unser Land seinen Standpunkt im EU-Rat nicht mehr so leicht durchsetzen können, aber das ist zum Teil selbstverschuldet. Die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit durch die PiS-Regierung und das Bündnis mit Orbán haben zu einem Knockout der Visegrád-Länder geführt, da Tschechien und die Slowakei sich nicht an dem antidemokratischen Spiel beteiligen wollen. Die baltischen Staaten oder auch Rumänien und Bulgarien wiederum sind zwar bereit, die Interessen Ostmitteleuropas gemeinsam zu verteidigen, aber nicht zur offenen Konfrontation mit Brüssel. Ein isoliertes Polen verfügt daher nur über geringe Koalitionsmöglichkeiten.“
Endlich kommt die Schengen-Erweiterung
Die EU löst sich aus ihrer Starre, freut sich der Journalist Ovidiu Nahoi im rumänischen Dienst von Radio France International:
„Nach dem Ausbruch der russischen Invasion gegen die Ukraine scheinen die Europäer ihre an eine Sklerose grenzende Unbeweglichkeit zu verlassen. Sie haben die Bedrohung Russlands verstanden und wissen, dass sie ihr nur gemeinsam begegnen können. Sie haben Pläne umgesetzt, um sich aus der Abhängigkeit von russischen Energieressourcen zu lösen. … Sie haben die Nato-Beitrittsanträge Finnlands und Schwedens unterstützt. Und jetzt kommt das Signal, dass das französisch-deutsche Paar die Erweiterung des Schengenraums unterstützt. Wenn alles gut läuft, könnten wir im Oktober oder Dezember die lang erwartete Nachricht erhalten.“
Ohne kreative Ideen
Scholz ist viele Antworten schuldig geblieben, moniert die taz:
„Ja, wir brauchen Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik. Ja, das Vetorecht ist ein Anachronismus. Doch wie er diese Ziele erreichen will, hat Scholz nicht verraten. Über die Abschaffung des Vetorechts diskutiert Brüssel schon seit Jahren. Bisher hat niemand eine Lösung gefunden - denn gegen die Abschaffung können die EU-Staaten selbst ein Veto einlegen. Das ist kafkaesk - und ruft nach neuen, kreativen Ideen. Diese Ideen sucht man bei Scholz vergebens. Er wiederholt sattsam bekannte Wünsche zur EU-Reform, die schon den deutschen Ratsvorsitz 2020 beschäftigt haben, zeigt jedoch keine Lösungen auf.“
Versuchsballon für den Wandel Europas
Olaf Scholz hat in ein Wespennest gestochen, konstatiert Lidové noviny:
„Scholz möchte mehr Mehrheitsentscheidungen anstelle des Einstimmigkeitsprinzips. ... Dagegen wird sich in einigen Ländern mit Sicherheit massiver Protest regen. Scholz ist freilich kein Selbstmörder. Seine Rede war ein Testballon, inwieweit sich die Mitgliedsländer Änderungen wünschen. Die russische Aggression gegen die Ukraine hat gezeigt, dass sich die Union reformieren muss, wenn sie schnell und entschieden reagieren will. Eine Umschreibung der EU-Verträge wäre da optimal. Aber wohl doch eher eine theoretische Lösung.“
Spaltung statt Einigung
Die Rede des Bundeskanzlers bewirkt das Gegenteil dessen, was in der aktuellen Situation nötig wäre, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Scholz will beides, mehr Grösse und mehr Macht. Der Schlüssel dazu ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips: Wenn einzelne nationale Regierungen unliebsame Beschlüsse in der Zentrale nicht mehr blockieren können, geben sie Garantien für ihre nationale Souveränität auf. … Gerade die Ostmitteleuropäer, die ihre nationale Souveränität erst nach dem Mauerfall wiedergewonnen haben, legen besonderen Wert darauf, nicht von den grossen westeuropäischen Staaten überstimmt und dominiert zu werden. Und das mit gutem Grund. … Eine Rede, die zur Einigung Europas aufrief, machte vielmehr die tiefe Spaltung in den zentralen Zukunftsfragen deutlich.“