Was bedeutet der Korruptionsskandal für die EU?
Nach der Festnahme von Eva Kaili hat das EU-Parlament die suspendierte Vize-Präsidentin abgesetzt. Kaili soll Geld aus Katar angenommen haben, damit sie Einfluss auf EU-Entscheidungen nimmt; Belgiens Staatsanwaltschaft wirft ihr und weiteren Verdächtigen unter anderem Korruption und die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Europas Presse debattiert die Konsequenzen.
Kontrolle viel zu lax
Pravda zufolge hinkt die EU in Sachen Korruptionsbekämpfung ihren eigenen Ansprüchen hinterher:
„Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat bei ihrem Amtsantritt versprochen, ein unabhängiges Gremium mit Befugnissen und Kapazitäten zu schaffen, um Verstöße gegen ethische Regeln in den EU-Institutionen zu untersuchen und zu ahnden. Nach drei Jahren ist dieses Gremium noch immer 'in Vorbereitung'. Laut Věra Jourová, der zuständigen stellvertretenden Vorsitzenden der Kommission, wird es sich jedoch nur um einen 'beratenden Ausschuss' ohne Untersuchungs- und Sanktionsmöglichkeit handeln. Das klingt nicht nach ausreichendem Schutz für ethische Regeln.“
So geht Rechtsstaat
Der Skandal zeigt, dass Korruptionsbekämpfung auf EU-Ebene besser funktioniert als in Polen, meint Gazeta Wyborcza:
„Ist es etwa ein Beweis dafür, dass die EU ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit hat? Das behaupten die Politiker der [Regierungspartei] PiS. ... Doch die Tatsache, dass gegen eine hochrangige Politikerin der mitregierenden Partei des EU-Parlaments ermittelt wird und diese festgenommen und verhaftet wurde, zeigt eben, dass der Rechtsstaat funktioniert. In Polen hingegen wird gegen PiS-Politiker und ihre Verbündeten nicht einmal ermittelt. Die Verhaftung einer Person aus der Regierungsprominenz ist sehr unwahrscheinlich.“
Integrität garantieren
Es ist höchste Zeit für einen Ethikrat, findet Irish Independent:
„Die Argumente dafür, eine knallharte, unabhängige Ethik-Aufsichtsbehörde ins Leben zu rufen, werden mit Blick auf die wachsende Macht der EU und ihrer Pläne für neue Mitgliedsstaaten nur noch dringlicher. Die Vorstellung, dass Korruption Routine im umkämpften politischen Alltag sein könnte, ist ein Gräuel. ... Integrität muss für die Durchführung von EU-Angelegenheiten von zentraler Bedeutung sein, sonst leidet der Status der Abgeordneten, wie auch der Ruf des gesamten Parlaments. Jeder Anschein, dass man sich Einfluss erkaufen kann, muss ausgeräumt werden. Oder wie Benjamin Franklin sagte: 'Glas, Porzellan und der Ruf bekommen leicht einen Knacks, lassen sich aber nicht gut reparieren.'“
Vielleicht verordnet sich die EU endlich eine Diät
Brüssel hat ein Monster geschaffen, wettert La Stampa:
„Brüssel ist inzwischen der einzige Ort auf dem Kontinent, der über Geld (und zwar sehr viel) verfügt und entscheiden kann, wie und wann es ausgegeben wird... In seinem Schatten ist etwas Maßloses geboren worden. Eine Regierung, die zu bürokratisch und zu groß ist, um wirklich kontrolliert zu werden. Die Tatsache, dass an der Spitze des Parlaments ein Präsident mit 14 Vizepräsidenten steht, ist das Bild einer überbordenden Macht. ... Es ist daher nicht schwer zu erkennen, wie zahlreich die Schnittpunkte und Löcher sind, durch die jede Initiative und jede Korruption schlüpfen kann. Der Katar-Skandal könnte die erste europäische Reform einleiten, zu der sich die EU selbst verpflichten muss, anstatt sie anderen aufzudrängen.“
Vorbildliches Verfahren
Phileleftheros lobt das Durchgreifen der belgischen Behörden:
„Sie haben den Status der Betroffenen nicht berücksichtigt. ... Sie haben sich nicht von irgendwelchem Kalkül aufhalten lassen. Sie haben keine Interessenabwägung vorgenommen. Nicht einmal, dass neben den betreffenden EU-Leuten auch ein reicher Staat (Katar) involviert war. ... Jeder in der Republik Zypern, der die Pflicht hat, Korruptionsfälle zu verfolgen, vom Generalstaatsanwalt über den Leiter der Anti-Korruptionsbehörde bis hin zum letzten Polizisten, sollte sich ein Beispiel am berüchtigten Qatargate nehmen. Sie sollen die belgischen Methoden in ein Handbuch umwandeln und es in jedem Fall genau befolgen. ... Nur so kann das Monster der Korruption bekämpft werden.“
Noch ein Schlag fürs Ansehen
Wegen seiner Art zu arbeiten hat das EU-Parlament wenig in der Hand, um dem Imageschaden durch solche Skandale etwas entgegenzusetzen, meint De Telegraaf:
„Die Institution hat bereits einen schlechten Ruf wegen des teuren Umzugszirkus, großzügiger Vergütungen und anderer Formen von Verschwendung. Das ist schade für den Teil der 705 Europa-Abgeordneten, der hart arbeitet, um den europäischen Mammut-Tanker zu lenken. Aber deren Arbeit bleibt für das große Publikum oft unsichtbar. Das hängt mit der politischen Kultur im Europaparlament zusammen: Die echte Arbeit findet vor allem hinter den Kulissen statt. … Durch diese politische Kultur spüren die gewählten Volksvertreter offensichtlich wenig Druck seitens Medien, Meinungsumfragen und der politischen Heimatfront.“
Moralische Autorität angeschlagen
Der Ruf des europäischen Gewissens steht auf dem Spiel, warnt La Vanguardia:
„Das Europäische Parlament, das bisher die von den Bürgern am meisten geschätzte EU-Institution war, könnte durch diesen Skandal in großen Misskredit geraten und die übrigen europäischen Institutionen mit sich reißen. Es wird auch die moralische Autorität verlieren, mit der es bisher die Korruption in einigen Mitgliedstaaten kritisiert hat, wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán gestern in einem Tweet spottete. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass Katar in den letzten Monaten zu einem strategischen Partner der EU geworden ist, der das LNG verkauft, das wegen der Schließung des russischen Gashahns gebraucht wird.“
Zum ungünstigsten Zeitpunkt
Die Glaubwürdigkeit der EU ist stark angegriffen, bedauert Turun Sanomat:
„Der Skandal im Parlament kommt zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Gerade jetzt wird vom Westen besondere Einigkeit verlangt, damit sichergestellt ist, dass die Front gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine so lange wie nötig hält. Leider haben wir einen Riss bereits gesehen, als Ungarn gegen das Einfrieren der EU-Hilfen protestierte, indem es das Hilfspaket für die Ukraine blockierte, obwohl die Hilfe des Westens für den militärischen Erfolg der Ukraine unverzichtbar ist. Die jetzt aufgedeckten Korruptionsvorwürfe untergraben die Glaubwürdigkeit der EU-Entscheidungsfindung zu einem Zeitpunkt, an dem eine solche Erschütterung am wenigsten gebraucht werden kann.“
Ethik- und Lobbyregeln erneuern
Die EU sollte den Korruptionsskandal produktiv nutzen, fordert Alberto Alemanno, Professor für Europarecht, in Le Monde:
„Das Europäische Parlament muss diesen Integritätsskandal in eine echte Reformanstrengung umwandeln. Anstatt sich wieder einmal darauf zu beschränken, die Partei zu geißeln, die direkt in den aktuellen Skandal verwickelt ist, sollten die führenden EU-Politiker unverzüglich eine umfassende Neugestaltung des Ethik- und Lobbysystems der Union ankündigen. … Der Skandal, der sich hier abspielt, ist jämmerlich. Genau das sollte die EU-Spitze motivieren, die Dinge zu korrigieren. Endlich.“
Es braucht Entschlossenheit, nicht neue Gremien
Die bisherige Reaktion der EU auf die Vorfälle verärgert die Wiener Zeitung:
„Offiziell sind im Brüsseler Transparenz-Register rund 12.000 Lobbyisten eingetragen. Angesichts dieser Rahmenbedingungen mutet der Beitrag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Problemlösung, nämlich die Forderung nach einem Ethikrat zur Überwachung aller EU-Institutionen, als typische Pflichtübung einer Spitzenpolitikerin an. Der reflexhafte Ruf nach Schaffung eines neuen Gremiums, ohne dass man noch viel über die Hintergründe weiß, ist wenig originell. … Ein neuer EU-Ethikrat wird, so ist zu erwarten, daran herzlich wenig ändern. Ein entschlossenes Vorgehen der Behörden umso mehr.“
EU muss sich den Spiegel vorhalten
Die regierungsnahe Magyar Nemzet wirft der EU Heuchelei vor:
„Die Wege der menschlichen Gier und des Geizes sind augenscheinlich genauso undurchschaubar, wie die Lobbyisten aus Katar aufdringlich sind. ... Die Wege der Heuchelei sind jedoch schnurgerade. ... Korruption gibt es in jedem Land. ... Eine der wichtigsten Fragen ist: in welchem Ausmaß und in welcher Form? Die andere Hauptfrage - insbesondere im Fall der EU-Institutionen - ist, wer einen allgemeinen Korruptionsvorwurf gegen irgendein Land, zum Beispiel gegen Ungarn, als politischen Knüppel schwingt und aus welchem Grund.“
Vom hohen Ross absteigen
Das EU-Parlament wäre gut beraten, die Affäre schleunigst aufzuklären, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Tatsächlich geht in Europa wohl niemand sonst so scharf mit den Korrupten und Semi-Autoritären, den Orbans und Kaczynskis dieser Welt ins Gericht wie die einzigen gewählten Volksvertreter der EU. Seit Jahren machen sie sich dafür stark, dass die Gewaltenteilung funktioniert und europäische Mittel nicht in dunklen Kanälen verschwinden. … Dass nun Ungarns Regierungschef das 'Katar-Gate' ausschlachten wird, liegt auf der Hand. … Die Europaabgeordneten wären jetzt gut beraten, schleunigst ihr Haus in Ordnung zu bringen – und vor allem von ihrem hohen Ross abzusteigen. Die schlichte Wahrheit ist, dass sich Geld überall Einfluss erkauft.“
Nicht aus allen Wolken fallen
Naftemporiki ist wenig überrascht:
„Im Mittelpunkt steht das Geld. Der Kauf von Menschen und Gewissen. … Der belgische Untersuchungsrichter Michel Claise wird in die Geschichte eingehen, weil er ein System von Korruption und Geldwäsche aus Katar aufgedeckt hat. ... Ziel der Operation - so die Brüsseler Richter - war die Beeinflussung der finanziellen und politischen Entscheidungen des Europäischen Parlaments durch Bestechung. ... Wir sollten natürlich nicht aus allen Wolken fallen. Katar hat seit 2010, als es sich um die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft beworben hat, den Weg für Korruption geebnet. 'Wenn jemand dagegen ist, kauft man ihn', war das Motto.“
Die Form bleibt gewahrt
Griechische Verhältnisse haben die EU erreicht, meint das Webportal To Kouti tis Pandoras:
„Die Lage in Griechenland ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Das Ergebnis: Politiker wie Kaili glauben, dass sie dasselbe auf europäischer Ebene tun können - also geldgierig sein und Taschen voller Schwarzgeld in der einen Hand tragen, während sie Katar als das Disneyland der Arbeiter beschreiben. ... Die Regierung hat alle Rekorde bei Verstößen gegen die Institutionen und Vorschriften des Parlaments, der Justiz und der Verfassung gebrochen. ... Glücklicherweise wahrt Europa jedoch die Form, was ein wichtiger Pfeiler der bürgerlichen Demokratie ist. Es informiert die Verdächtige nicht, es gibt ihr keine Zeit, die Beweise zu vernichten. ... Und das Wichtigste, es bringt sie in Untersuchungshaft.“
Es geht nur noch um Schadensbegrenzung
Die EU muss schnell handeln, fordert Der Spiegel:
„Das Parlament muss vorbehaltlos mit der belgischen Justiz zusammenarbeiten. Die Abgeordneten müssen schnell dafür sorgen, dass für den Umgang mit Lobbyisten aus Drittstaaten die gleichen Regeln gelten wie für alle anderen Lobbyisten auch. Auch die versprochene Visaerleichterung für Katar darf zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht kommen. Es wäre verheerend für die EU, wenn der Eindruck entstünde, ein Land kaufe sich den Zugang nach Europa. Am Ende gibt es in dieser Affäre nur Verlierer. Es kann nur noch darum gehen, die langfristigen Schäden zu begrenzen. Das wird schwer genug.“
Widerwärtig
Das ist nicht nur eine Schande für die Sozialisten, urteilt La Repubblica:
„Es geht auch um Kailis Unverfrorenheit, ein Land öffentlich zu loben, in dem in den letzten Jahren mehr als 15.000 ausländische Arbeitskräfte starben, um den Emiren die umstrittenste Fußball-WM der Geschichte zu bescheren. … Der Skandal des Miniclans um Panzeri [Ex-EU-Abgeordneter, Frau und Tochter wurden auch festgenommen] ist überdies eine Brüskierung des Europäischen Parlaments. Die Macht der Lobbys, die reguliert werden kann und muss, ist eine Sache. Eine andere ist es, wenn ein Europaabgeordneter, der über zehntausend Euro im Monat verdient, das Bedürfnis verspürt, säckeweise Geldscheine aus Katar zu holen. Die Vorstellung, dass in einem Parlament, in dem Europas Werte tagtäglich verteidigt werden, Abgeordnete sitzen, die selbst von autoritären Regimen korrumpierbar sind, ist widerwärtig.“
Imagepflege mit Golf-Dollars wird leicht dubios
Doha zieht einfach alle Register, um sich zu profilieren, analysiert Der Standard:
„Das kleine, stinkreiche Emirat Katar hat im Grunde das erfunden, was heute auch andere Golfstaaten machen: viel Geld und Diplomatie in Imagepflege und internationale Vernetzung investieren. Und auch wenn diese Strategie strafrechtliche Grenzen nicht prinzipiell überschreiten muss, stößt sie schnell einmal an das, was in Europa als ethisches No-Go gelten sollte. … Die Mittel Katars sind bekannt: weltweit in alles investieren, was man erwischen kann (Sport, Kultur, Immobilien, Industrie), Institutionen und Unternehmen nach Katar bringen, Profilierung als 'arabisches Genf'. Die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban fanden in Doha statt, Katar ist Dauervermittler zwischen Israel und Hamas.“
EU könnte unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren
Im EU-Apparat fehlt es an demokratischer Legitimierung und Regulierung, bemerkt Göteborgs-Posten:
„Die EU braucht eine verständliche, klare Verfassung nach amerikanischem Modell, die die Machtverteilung zwischen EU, nationalen Parlamenten und lokaler politischer Ebene klärt. ... Ohne eine solche Verfassung läuft das Projekt EU Gefahr, unter seinem eigenen Gewicht zusammenzubrechen. Denn die nicht vom Volk gewählten Funktionäre in Brüssel und Straßburg werden kaum freiwillig Teile dessen abtreten, was sie von Europas Volksvertretern bekommen haben: allzu weitreichende politische Macht. Macht, die nicht einhergeht mit der Verpflichtung, Rechenschaft abzulegen.“