Haben die USA Nord Stream gesprengt?
Die Ermittlungen zu den Anschlägen auf die Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 dauern noch an. US-Journalist Seymour Hersh will die Wahrheit schon kennen. Seinen Recherchen zufolge soll das US-Militär die Pipelines gesprengt haben, Norwegen sei in die Aktion eingeweiht gewesen. Hersh beruft sich in seinem Blog auf eine einzige anonyme Quelle. Die US-Regierung dementiert, Europas Presse spekuliert.
Wie in Agatha Christies Orient-Express
Es kann nach wie vor nichts mit absoluter Gewissheit gesagt werden, meint der Publizist Christian Ortner in der Wiener Zeitung:
„Tatsächlich ist bis heute unbekannt, wer die Gasleitung gesprengt hat. Ziemlich klar ist nur, dass es wohl ein staatlicher Akteur war - ansonsten gleicht das Setting jenem an Bord des Orient-Express von 1934 geradezu frappierend. Jeder, der in Frage kommt, hätte auch ein Motiv. ... Da sind einmal, wie von Hersh insinuiert, die USA. ... Aber auch der Kreml hätte Motive. ... Aber auch Polen oder die Ukraine hätten Motive. ... Poirot verkündet im Roman das überraschende Ergebnis übrigens erst, nachdem er absolute Gewissheit über den Mörder erlangt hat. So weit sind wir in der Causa Nord Stream 2 noch nicht.“
Zweifel sind angebracht
Le Temps bezweifelt die Unschuld der USA:
„Es liegt der Verdacht nahe, dass die USA den Vorwand des Krieges nutzten, um die Nord Stream-Pipelines endgültig zu zerstören. So konnten sie das russische Gas durch amerikanisches Gas ersetzen und Europa dauerhaft in eine neue Energieabhängigkeit bringen. ... Joe Biden erklärte im Februar 2022: 'Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden es beenden.' ... Sieben Monate später war es soweit! Es gibt zwar nur Indizien und keine Beweise, aber Zweifel sind angebracht.“
Krieg gefährdet die Pressefreiheit in Europa
Ctxt.es fragt sich, warum diesseits des Atlantiks kaum jemand Hershs Ergebnisse aufgreift:
„Hershs Untersuchung mag fehlerhaft sein, aber sie hat einen grundlegenden Wert: Sie stellt die Rolle der Biden-Administration im Ukraine-Krieg infrage. ... Die nicht vorhandene Medienberichterstattung über die Nord-Stream-Explosion ist nur ein Symptom dafür, dass in den westlichen Demokratien wirklich etwas nicht stimmt. ... Theoretisch führen wir Europäer diesen Krieg, um die Werte der liberalen Demokratien zu verteidigen. ... Wird die Presse in der Lage sein, dem Druck des Führers der freien Welt standzuhalten und die Selbstzensur und die Bequemlichkeit der Einheitsversion aufzugeben? Wird dieser Krieg die Reste der Pressefreiheit in Europa mit sich reißen?“
Wenig glaubwürdig
Hershs Nord-Stream-Stück ist das Aufsehen nicht wert, findet das Handelsblatt:
„Hersh konstruiert eine Verschwörung, ohne die richtigen Fragen zu stellen. Die wichtigste lautet: Warum? Die deutsch-russische Erdgaspartnerschaft war Geschichte, als die Rohre auf dem Meeresgrund zerbarsten. Die Bundesregierung hatte die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 nach Russlands Angriff auf die Ukraine gestoppt und erklärt, künftig kein russisches Gas mehr importieren zu wollen. Damit hatte auch Nord Stream 1 keine Zukunft mehr. Warum sollten die Amerikaner eine Investitionsruine sprengen - und für ein gescheitertes Energieprojekt ein Zerwürfnis mit Deutschland riskieren? Um der EU Flüssiggas zu verkaufen? Entsprechende Verträge waren im September 2022 längst geschlossen.“
Stochern im Nebel
Auch Hörfunkkommentator Jan Fingerland macht in Český rozhlas seine Zweifel deutlich:
„Hätte den Artikel jemand ohne Hershs glorreiche Vergangenheit geschrieben, wäre er niemandem die geringste Reaktion wert. Alles, was in diesem Krieg - und ähnlich in anderen - passiert, bleibt in Nebel gehüllt. Der Medienraum wird nicht nur mit irreführenden Aussagen der Kriegsparteien überflutet. Sondern auch von emotional engagierten Journalisten und mehr oder minder qualifizierten Experten, die aus der Ferne Taktiken kommentieren, ohne auch nur zu wissen, wie viele Soldaten vor Ort sind. Natürlich weiß ich nicht, wer Nord Stream 1 und 2 zerstört hat. Es gibt aber Grund zur Annahme, dass das auch mein erfahrener Kollege Hersh nicht weiß.“
Politische und finanzielle Interessen
Ein Motiv hätten die USA, findet hingegen die regierungsnahe Magyar Nemzet:
„Der Pulitzer-Preisträger kann sich natürlich irren, ebenso seine Quellen - oder sie könnten sogar bewusst Unwahrheiten behaupten. Es scheint jedoch nicht besonders wahrscheinlich, dass sich der Journalist mit 85 Jahren seinen Ruf durch eine riesige Zeitungsente zerstören wollte. ... Was auch immer mit Nord Stream passiert ist: Die USA haben ein geopolitisches Interesse daran, Deutschland von Russland zu trennen und gleichzeitig die Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland zu beenden. Es gibt auch finanzielle Interessen: ... Der zuvor defizitäre US-Schiefergassektor erwirtschaftete im vergangenen Jahr aufgrund hoher Energiepreise einen Gewinn von 200 Milliarden US-Dollar.“
Nicht der Kriegsrhetorik verfallen
Da Krieg zu Schwarzweiß-Denken verleitet, sollte man über unbequeme Thesen zumindest nachdenken, plädiert Costi Rogozanu in Libertatea:
„Sie können entscheiden, ob Sie Hersh glauben oder nicht. Für die einen mag er ein alter Mann sein, der nur Ärger macht. [Solche Leute mögen denken:] Wir halten zu den Amerikanern, sie verteidigen uns und basta. ... Ich ziehe es vor, an Hersh zu glauben und an Wahrheiten, die uns das Leben komplizierter machen. ... Wenn wir solche Warnrufe ignorieren, wird das propagandistisch-militärische Bauwerk über uns einstürzen, ohne dass wir vorher noch ein wenig revoltiert haben. Hersh ist ein Hauch frischer Luft in einer Welt, in der sich der Kriegsschauplatz auch auf das Feld der Information ausweitet.“