9. Mai: Welche Botschaft hat Putin gesendet?
Präsident Wladimir Putin hat in seiner Rede zum 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über Hitler-Deutschland 1945, den Angriff Russlands auf die Ukraine gerechtfertigt. Gegen sein Land sei ein Krieg angezettelt worden, erklärte er vor Tausenden Soldaten und Veteranen auf dem Roten Platz in Moskau. Kommentatoren interpretieren die kleiner als üblich gehaltene Parade und Putins Auftritt.
Zu viele nehmen Show für bare Münze
Die Militärparade in Moskau ist für Obosrewatel
„ein Appell an vergangene Verdienste, die Erzählung von einer Festung, die von Feinden belagert wird, ein künstliches Zusammenschließen der Bevölkerung, ein Festhalten an den Werten der Vergangenheit durch Menschen, die mit dieser Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Echte Veteranen (von denen wahrscheinlich keine mehr leben) fehlen völlig, dafür ist eine riesige Zahl von 'verkleideten' Menschen zu sehen. Die Siegesparade verkommt immer mehr zu einer rituellen Show. Das Problem daran ist jedoch, dass die Teilnehmer dieser Show fest von ihrer Authentizität überzeugt sind.“
Die Ukraine soll nur Zwischenstation sein
In Rumänien hört man Putin anders zu als in Nato-Ländern, die nicht ans Kriegsgebiet grenzen, schreibt Jurnalul National:
„Putins Rede zeigt prägnant, dass der Kampf gegen den Globalismus über die Spezialoperation hinausgeht. ... Der Westen wird als feindlicher Lieferant von Terrorismus bezeichnet, der Kampf in der Ukraine ist nur eine Episode. In Rumänien werden die Spannungen sehr deutlich wahrgenommen, viel deutlicher als in Nato-Ländern, die durch ihre geographische Lage vor dem Konflikt geschützt sind. ... Nun gilt es Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die sich leider immer mehr verflüchtigt. … Es ist für Rumänien von wesentlicher Bedeutung, dass sich der bewaffnete Konflikt in der Ukraine beruhigt. Eine Beteiligung der Nato am Krieg wäre in keiner Weise vorteilhaft.“
Kraftmeierei statt Feier des Friedens
Der Europatag und Russlands Tag des Sieges sind zwei diametral unterschiedliche Sichtweisen auf dasselbe historische Ereignis, beobachtet Webcafé:
„Während Ersterer den Frieden in Europa und die Heilung der Wunden des Kontinents nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs feiert, steht Letzterer für ein chauvinistisches, hoffnungslos auf die Vergangenheit schauendes Fäusteschwingen. Der Sieg über Nazi-Deutschland sollte in der Tat gefeiert werden. Er bedeutete den Zusammenbruch eines menschenfeindlichen Regimes, das Millionen von Menschen getötet hatte. Das Problem mit dem Tag des Sieges, wie er von Russland propagiert und gefeiert wird, liegt darin, dass Moskau von der Vorstellung der eigenen Erhabenheit besessen ist und nur ihr Bedeutung beimisst.“
Der moralische Bonus der UdSSR ist verspielt
Laut Nowaja Gaseta Ewropa hat Putin Russlands guten Ruf endgültig ruiniert:
„Nach dem Albtraum des Hitler-Nazismus mit seinem Streben nach totaler Beherrschung der Gesellschaft und Gewalt im Namen der Rassen-Überlegenheit träumte man in der westlichen Welt von einer Weltordnung, in der die staatliche Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten und die Vernichtung ganzer Völker und sozialer Gruppen unmöglich sein würde. Auch wenn die UdSSR nicht alle diese Werte teilte, so wurde von ihr doch der Nazi-Kult um die rassische und historische Einmaligkeit der Deutschen eindeutig verurteilt. Gleichzeitig wurde die Sowjetunion dank des Sieges zu einer der 'Moral-Großmächte', zum Land, das dem Faschismus ein Ende setzte. Dieses moralische Kapital wurde von Putin völlig zerstört.“
Aufruf an die eigene Bevölkerung
Die diesmal kleiner gehaltene Parade interpretiert die Aargauer Zeitung so:
„Offenbar wollte Putin diesmal die Botschaft an die russische Bevölkerung höher gewichten als das sonst am 9. Mai übliche 'Show of Force'-Spektakel fürs Ausland. Diese auf dem Roten Platz vorgeführte Botschaft ans eigene Volk lautet: Die Lage ist ernst, jeder Mann, jedes Flugzeug, jeder Panzer wird an der Front benötigt. Dieser Krieg wird noch lange dauern, ein Nachgeben oder Kompromisse kommen nicht in Frage. All jene, die insbesondere in den Bevölkerungszentren Moskaus und St. Petersburgs noch immer so tun, als ob der Ukraine-Krieg weit weg wäre und sie nichts anginge, sollen sich gefälligst und endlich hinter Russlands Fahne scharen.“
Orwell 2.0
Zur Rede Putins heißt es in Pravda:
„Putin hat uns nur bestätigt, dass sich in seiner orwellschen Gedankenwelt, in der Krieg Frieden ist und Lügen Wahrheit sind, überhaupt nichts geändert hat. Er überzeugte das heimische Publikum, dass er eine Zukunft des Friedens, der Freiheit und der Stabilität wünsche, während die russische Armee die Ukraine mit einer weiteren Welle von 'Friedenstauben"-Raketen übersäte. Gleichzeitig warnte er vor aggressivem Nationalismus und Überlegenheitsideologie. Das heißt, vor den giftigen Elementen totalitärer Regime, die er selbst auf heimischem Boden kultiviert. Für diejenigen, die noch zweifeln, sind die Unterschiede zwischen Putins Worten und Taten frappierend.“
Klima der Unsicherheit
Ein gelinde gesagt gedämpfter Tag des Sieges für den Kreml-Herrscher, resümiert Avvenire:
„Das Land feierte den Jahrestag des Sieges über den Nazifaschismus gestern in einem Klima der Unsicherheit und der Angst vor neuen Anschlägen. Auch im Kreml ist man sich bewusst, dass der Krieg nicht wie erhofft verläuft und dass sich die Bachmut-Front in ein Blutbad verwandelt. Im Gegensatz zu den vergangenen Ausgaben des Feiertags, die von einer festlichen Atmosphäre und der Nostalgie für den militärischen Ruhm der Sowjetunion geprägt waren, war das Publikum in Moskau gestern eher spärlich. Einer der Hauptgründe war, dass die spektakuläre Parade, die sich entlang der Twerskaja zum Roten Platz schlängelt, dieses Jahr praktisch nicht stattfand. Vor dem Kreml fuhr ein einziger T-34, ein Panzer aus der Sowjetzeit.“
Selenskyj stiehlt Putin die Show
Selenskyj hat Putin diskursiv ausgebootet, analysiert Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„In der Verherrlichung des 'Großen Vaterländischen Krieges' sucht Putin nach Gründen, um durchzuhalten, indem er den Westen anstelle der Nazis von damals als Gegner bezeichnet. Doch in der Schlacht der Symbole war es Wolodymyr Selenskyj, der den ersten Schuss abfeuerte, als er gestern erklärte, die Russen würden aus der Ukraine zurückgedrängt werden, 'wie die Nazis 1945'. Der Gipfel: Wladimir Putin wurde seiner rhetorischen Mittel beraubt.“
Es riecht nach Schimmel
La Stampa erklärt über die Feierlichkeiten auf dem Roten Platz:
„Jahrestage, öffentliche Feiern haben ihren eigenen Geruch. ... Ein Jahr nach der Aggression gegen die Ukraine riecht es nach Schimmel, nach Spinnweben, nach Resignation, nach Ohnmacht. ... Der Geruch von Regimen, die der Dekadenz ausgeliefert sind, ohne dass sie in der Lage sind, sie zu beseitigen. Auf dem Platz scheint die einzige Erinnerung, die von schicksalsschwerer Aura umgeben ist, die Mumie von Lenin zu sein. Die Parade ist ein Schaufenster, in dem neue Dinge verkauft werden, die alt aussehen, die man aber trotzdem nicht kaufen kann, weil die Preise zu hoch sind. ... Etwas, das der Plage des Vergessens erlegen ist, die ihm bereits anhaftet. Für autoritäre Regime ist das schlimmer, als eine militärische oder diplomatische Niederlage zu erleiden.“
Angstvoller Blick nach oben
Die Siegesparade in Moskau wird in diesem Jahr von Nervosität begleitet, schreibt Gazeta Wyborcza:
„Immer neue Ablenkungsmanöver im Vorfeld der ukrainischen Gegenoffensive sorgen in Russland für Unruhe. ... Sowohl dem 'Oberbefehlshaber' als auch den Teilnehmern und Gästen der Parade wird es nach dem Drohnenangriff auf den Senatspalast des Kremls am Mittwoch schwerfallen, den Blick nicht nach oben zu wenden und hinzuhören, ob nicht die Motoren weiterer Flugapparate über Moskau surren.“
Glorreiche Vergangenheit statt glänzender Zukunft
Putin nutzt den Tag des Sieges nach bewährter Manier, analysiert der Russland-Korrespondent Benoît Vitkine in Le Monde:
„Putins Vorgehen erinnert daran, wie die Sowjetunion beschloss, den Weltkrieg zu einem Gründungsmythos zu machen. Die erste Militärparade zur Feier der deutschen Kapitulation fand erst 1965 statt – in einer Zeit der Stagnation der UdSSR, als ihre Führung erkannte, dass es einfacher sein würde, der Bevölkerung die glorreiche Vergangenheit anstatt einer glänzenden Zukunft zu präsentieren.“
Moskaus Einladung ist ihnen Befehl
Dass die Staatschefs von vier zentralasiatischen Republiken und Armenien anreisen, ist für Politikjournalist Arkadi Dubnow auf seiner Facebookseite bezeichnend:
„Da Russlands Präsident im Westen zum Paria geworden ist, braucht er in dieser Situation dringend die Unterstützung der Partner aus dem postsowjetischen Raum. ... Eine andere Frage ist, ob die Anwesenheit einiger GUS-Präsidenten bei der Parade deren Unterstützung für Russlands Vorgehen in der Ukraine darstellt. ... Wie sich zeigt, sind russische Einladungen nach Moskau immer noch nicht solche, die die engsten Partner ablehnen könnten. Russland ist trotz der ernsthaften Schwächung seiner globalen Position nach dem 24. Februar 2022 in bekanntem Maße immer noch die Metropole des ehemaligen Imperiums.“
Symbol der Einsamkeit statt Einheit
Politologe Karmo Tüür erklärt in Õhtuleht:
„In der sowjetischen Version der Geschichte waren die Russen sowohl mit den Polen als auch mit den Ukrainern verbündet. Heutzutage gibt es in der modernen russischen Weltanschauung keine furchterregenderen Menschen als diese ukrainischen Neonazis und ihre polnischen Marionettenmeister, ganz zu schweigen von anderen Angelsachsen. Der Höhepunkt der Paranoia ist jedoch das Ausfallen des Unsterblichen Regiments [landesweite Gedenkmärsche für Gefallene der Roten Armee] aus Angst vor unangemessenen Plakaten und Fragen von Leuten. Und so ist der 9. Mai, der Tag des Sieges, einst ein Symbol der Einheit, zu einem Tag des Elends und der Einsamkeit geworden.“