Russland setzt Getreidedeal aus - endgültig?
Der in den vergangenen Monaten mehrfach verlängerte Deal zum Export von ukrainischem Getreide ist am Montag ausgelaufen, nachdem Moskau eine weitere Verlängerung verweigert hatte. Die Ukraine will jedoch auch ohne Sicherheitsgarantien weiter liefern. Die zwischen der Ukraine und Russland vermittelnden Parteien - die Türkei und die Uno - wollen die Verhandlungen fortsetzen. Europas Presse bewertet die neue Lage.
Spezialisierte Häfen mit Uno-Überwachung
Russische Geschosse haben gezielt ukrainische Infrastruktur zum Getreideexport zerstört. Internationale Partner sollen die Ukraine beim Export unterstützen, fordert Liga.net:
„Um die Getreideexporte aus der Ukraine zu blockieren, wird Russland weiterhin mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Hafeninfrastrukturen für den Umschlag von Lebensmitteln massiv beschießen und dabei Kamikaze-Drohnen und Marschflugkörper verschiedener Typen einsetzen, meint Ivan Kyrychevskyi, Berater bei Defense Express. Die Lösung für dieses Problem liege nicht nur in der Verstärkung der Luftabwehr. Man sollte mit der Uno vereinbaren, dass bestimmte Häfen - Chornomorsk oder Pivdenne - ausschließlich für Getreide genutzt werden und dort Überwachungsteams unter Beteiligung der Uno und der Türkei eingesetzt werden.“
Moskau pokert hoch
News.bg glaubt, dass Russland mehr Zugeständnisse einfordern will:
„Es ist gut möglich, dass die Russen einen Erpressungsversuch größeren Ausmaßes planen. Die Bereitschaft des Westens, gegenüber der Rosselkhozbank nachzugeben [bezüglich ihrer Wiedereingliederung ins Zahlungssystem Swift], könnte im Kreml als Schwäche erkannt worden sein. Und wo es Schwächen gibt, kann Druck ausgeübt werden. So versteht man in Russland Außenpolitik.“
Russland verprellt seine Freunde
Besonders Länder in Afrika würden unter den steigenden Getreidepreisen leiden, betont Turun Sanomat:
„Der Ausstieg Russlands aus dem Abkommen stellt langfristig eine erhebliche Gefahr für den Getreidemarkt dar. Der Preisanstieg würde die am meisten benachteiligten Länder und Menschen am härtesten treffen. Russland nutzt Getreide als Erpressungsinstrument und kümmert sich nicht um die Folgen seines Handelns. Russland geht ein großes Risiko ein, denn von den höheren Lebensmittelpreisen wären vor allem die mit Russland sympathisierenden Länder zum Beispiel in Afrika betroffen. Russland hat schon jetzt nicht viele Freunde.“
Direkte Exporte aushandeln
Russlands Entscheidung muss nicht das Aus für den Getreidedeal bedeuten, stellt der Ukraine-Korrespondent der taz, Bernhard Clasen, klar:
„Wenn Russland nicht mitmachen will, sollen eben einige Länder und die UNO, stellvertretend für die Weltgemeinschaft, direkt Getreide aus der Ukraine exportieren. Russland wird nicht auf diese Getreideschiffe schießen. Schon gar nicht, wenn diese Schiffe mit Fahnen eines mit Russland nicht verfeindeten Staates, wie beispielsweise Ägypten, China, Südafrika oder Brasilien beflaggt sind. ... Gleichzeitig müssen Länder, wie Brasilien, Südafrika, China bei der Finanzierung der hohen Kosten der Versicherung dieser Getreideschiffe unterstützt werden. Wenn Geld für Waffen da ist, muss auch Geld für das Versichern von Getreideschiffen da sein.“
Putins Bluff geht nicht auf
Ein Ausstieg aus dem Getreidedeal ist nicht im Interesse von Russland, meint Yevgeniya Gaber, Senior Fellow beim Atlantic Council, in NV:
„Russland mag sagen, dass die Fortsetzung des Abkommens im trilateralen Format eine 'rote Linie' überschreitet. Aber ein Angriff russischer Streitkräfte auf ein mit Getreide beladenes Schiff könnte eine ernsthafte Reaktion auslösen, die Moskau nicht wünscht, je nachdem, zu welchem Land das Schiff gehört, wer dessen Besitzer ist und woher die Seeleute kommen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Russland nach einem Treffen oder Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Getreidedeal in den nächsten Wochen wieder aufnimmt.“
Der internationale Druck auf Moskau ist groß
Die Ukraine tut gut daran, auch ohne Verlängerung des Getreideabkommens den weiteren Export seiner Agrargüter über das Schwarze Meer einzufordern, meint das Tageblatt:
„Denn warum sollte sich Kiew dem Wohlwollen seines Aggressors unterwerfen, wenn es seine international verbrieften Rechte wahrnehmen und über internationale Gewässer Handel treiben will? Das Schwarze Meer ist kein russisches Mare Nostrum. ... Rund acht Millionen von insgesamt 33 Millionen Tonnen wurden nach China verschifft. Gut möglich, dass der Kreml-Herrscher bald einen Anruf aus Peking erhält. Die Regierung tut gut daran, der Erpressung Putins nicht nachzugeben.“
Nichts weniger als ein Kriegsverbrechen
Der ausgesetzte Getreidedeal dürfte verheerende Folgen haben, mahnt The Irish Times:
„Der ukrainische Ausweichplan sieht einen Garantiefonds für Schiffe, die das Schwarze Meer befahren, in Höhe von 500 Millionen Euro vor, sowie eine Umleitung der Getreidelieferungen über die Donau. Aber dieser Plan B wird den Verlust der Route, über die derzeit monatlich 4,2 Millionen Tonnen und 80 Prozent der Vorkriegsexporte abgewickelt werden, nicht ausgleichen können. Die erneute Bedrohung der Schifffahrt durch Russland, die gestern mit einer Welle von Drohnen- und Raketenangriffen begann, trifft direkt ins Herz eines zivilen Ziels, das für die Ernährung einiger der ärmsten Länder der Welt von entscheidender Bedeutung ist. Das ist nichts weniger als ein Kriegsverbrechen.“
Westen schert sich nicht um die Hungernden der Welt
Die Behauptung des Westens, dass Russland das Leben der Schwächsten gefährdet, stimmt nicht, schreibt Sašo Ornik auf seinem Blog Jinov Svet:
„Das Problem ist, dass ihnen nur wenige Menschen im Globalen Süden glauben werden. Jeder hat gesehen, dass sich im Westen niemand um ihre Bedürfnisse schert und das ukrainische Getreide eher dem Profit westlicher Unternehmen diente. Andererseits wird die Bedeutung des ukrainischen Getreides übertrieben. Die weltweite Getreideproduktion beträgt 2.300 Millionen Tonnen pro Jahr, das Abkommen über den Export von ukrainischem Getreide umfasst nur 33 Millionen Tonnen, von denen 18 Millionen in westliche Länder gingen.“
Verhandlungen könnten Abkommen retten
La Stampa hofft auf eine Kompromisslösung:
„Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte, Moskau sei bereit, das Abkommen zu reaktivieren, sobald die russischen 'Bedingungen' erfüllt seien. Es ist nicht ganz klar, welche das sind. Eine wichtige Bedingung ist sicherlich die Wiederaufnahme der russischen Landwirtschaftsbank Rosselkhozbank in das Swift-System. Der von UN-Generalsekretär António Guterres angebotene Kompromiss, eine Tochtergesellschaft der Rosselkhozbank wieder zuzulassen, war nicht ausreichend. ... Die Märkte gehen wohl davon aus, dass eine Lösung gefunden werden wird. Dies ist einer der Gründe, warum sie ohne großes Drama reagiert haben.“
Auch der Westen muss sich bewegen
Man kann die Schuld nicht allein Russland zuschieben, meint Der Standard:
„Der Deal hat zwei Seiten. Freie Durchfahrt der Getreideschiffe ab den Schwarzmeerhäfen ist die eine. Die andere ist, dass der Deal auch Russland die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte ermöglichen soll. Aber Sanktionen etwa gegen Banken erschweren die Exporte. Russlands Forderung: Die staatliche Landwirtschaftsbank soll von den Sanktionen des Westens befreit werden, um Geschäfte abwickeln zu können. UN-Generalsekretär António Guterres nannte das Getreideabkommen ein 'Leuchtfeuer der Hoffnung'. Es darf nicht erlöschen. Russland muss sich bewegen. Aber auch der Westen muss zumindest im Bereich von Nahrungsmitteln Sanktionen aufheben.“
Weizen als Kriegswaffe
Putin versuche, das Getreideabkommen als Druckmittel zu benutzen, beobachtet La Croix:
„Das Abkommen trägt zu Moskaus Propaganda-Diskurs bei, der besagt, dass es die Sanktionen des Westens sind, die die Exporte blockieren. Es ist für Putin auch ein Mittel, neue Partner in Afrika zu gewinnen und seine Unterschrift bei jeder Neuverhandlung von einer immer länger werdenden Liste von Forderungen abhängig zu machen, von denen einige nichts mit dem eigentlichen Thema des Abkommens zu tun haben. Man weiß bereits seit der Antike, dass Weizen ein großartiges diplomatisches Machtinstrument ist. Moskau macht aus ihm auch eine Kriegswaffe - handgemacht vom Zynismus Wladimir Putins.“
Moskau setzt auf Streit in der EU
Vielleicht will Putin auch die Solidarität Europas mit der Ukraine auf die Probe stellen, überlegt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„In Moskau hat man sehr genau die Verwerfungen wahrgenommen, die der Export ukrainischer Agrarprodukte auf dem Landweg im Frühjahr in der EU verursacht hat, weil europäische Bauern sich einer neuen und sehr unerwünschten Konkurrenz ausgesetzt sahen. Wenn der Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer nun nicht mehr möglich sein wird, führt dessen einziger Weg auf die Weltmärkte durch die EU. Und die kann sich dem trotz Bauernprotesten kaum verschließen, weil sie sonst einen der wichtigsten Wirtschaftszweige der Ukraine abwürgen würde.“
Schlechte Nachricht, aber keine Katastrophe
Kein Grund zur Beunruhigung, meint Polityka:
„Die Aufkündigung des Getreideabkommens ist eine schlechte Nachricht, deren Auswirkungen auch in Polen zu spüren sein werden. Aber die Situation ist nicht vergleichbar mit den ersten Kriegsmonaten, der Blockade des Schwarzen Meeres und dem Chaos, das die Angst vor einer globalen Krise mit Mangelernährung und Hungersnot schürte und eine Inflation der Lebensmittelpreise nach sich zog. ... Vielleicht war das Abkommen notwendig, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, sich so gut wie möglich an die neuen Umstände anzupassen. Auch der Rest der Welt hat sich besser vorbereitet. Nach der diesjährigen Ernte dürften die weltweiten Maisvorräte - unter anderem aus Brasilien - die höchsten seit fünf Jahren sein, während sie kurz vor dem Krieg extrem niedrig waren.“