Migration: Ist die EU auf dem richtigen Weg?
Vergangene Woche haben erneut in nur drei Tagen 10.000 Flüchtlinge die italienische Insel Lampedusa erreicht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte dort zuvor einen Zehn-Punkte-Plan zur Migrationspolitik vorgestellt: Eine bessere Verteilung von Migranten innerhalb der EU, aber auch eine verstärkte Überwachung der Außengrenzen gehören dazu. Kommentatoren diskutieren, welche Maßnahmen sinnvoll sein könnten.
Es braucht klare Antworten auf konkrete Fragen
Die Politik muss in Sachen Migration die folgenden Schlüsselfragen klar beantworten, fordert Portal Plus:
„Wie viele Migranten kann unsere Gesellschaft in ihrer aktuellen Struktur aufnehmen oder im Transit abfertigen, ohne die soziale sowie die wirtschaftliche Stabilität und Sicherheit des Landes zu gefährden? Sie muss auch die wichtige Frage beantworten, welche Ausländerstruktur wir aufgrund des Defizits in bestimmten Wirtschaftszweigen und Gesellschaftssystemen tatsächlich brauchen. Aus den Antworten auf diese Fragen folgen operative Maßnahmen im Bereich Asyl, Integrationspolitik und Maßnahmen im Bereich Grenzschutz, die Vertrauen bei den Bürgern schaffen sowie Lebensqualität und Entwicklung sichern.“
Mit einer Stimme sprechen
Visão hofft, dass die Europawahl im nächsten Jahr ein Zeichen für mehr Humanismus in der Migrationsfrage setzt:
„Niemand wünscht sich ein Europa, dessen Türen weit offen stehen. ... Aber es ist weder seriös noch menschlich, mit diesem Argument die völlige Unfähigkeit Europas zu rechtfertigen, das Problem mit einer Stimme und auf wirksame Weise anzugehen. ... Solange Europa nichts anderes ist als ein Markt von Bürokraten in gepolsterten Büros, wird es niemals eine Union sein. Deshalb sind die Europawahlen die wichtigsten der nächsten Jahre. ... Sie werden klären, ob wir als Block überleben werden, nicht nur wirtschaftlich oder strategisch, sondern vor allem als Leuchtturm des Humanismus und der Freiheit.“
Gründungsprinzipien umsetzen
Das Thema ist für die EU ein fundamentales, konstatiert El País:
„In dieser seit 2015 beispiellosen Zeit droht die EU aus den Fugen zu geraten, weil sie keine wirksame gemeinsame Migrationspolitik hat. ... Die Rechte auf Mobilität und Asyl erfordern ein rationales und realistisches Management, das auch verhindert, dass die extreme Rechte das Phänomen ausnutzt, während sie die Realität ausblendet: Einerseits darf sich Europa nicht an einer menschlichen Tragödie mitschuldig machen, andererseits zeigt die demografische Entwicklung Europas, dass wir die Migranten brauchen. ... Es geht nicht nur um die Bewältigung des Zustroms, sondern auch darum, wie die EU sich selbst sieht: Ist sie wirklich bereit, ihre Gründungsprinzipien von Freiheit und Rechten in die Tat umzusetzen oder deklariert sie sie nur?“
Keine Bedrohung, sondern Pragmatismus
Lidové noviny kann den Wunsch Deutschlands nach verschärften Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen nachempfinden:
„Oft herrscht das Gefühl, dass Deutschland bei uns seinen Einfluss durchsetzt. Das gilt jedoch nicht für das Grenzregime, auch wenn Innenministerin Nancy Faeser es mit der vorübergehenden Einführung von Grenzkontrollen verschärfen will. Das stellt keine Bedrohung für Polen und Tschechien dar. Deutschland führt diese Kontrollen auch an den Grenzen zu Österreich oder der Schweiz durch. ... Es geht darum, die Bewegungen von 'Illegalen' zu überwachen, damit möglichst wenige über tschechisches Territorium nach Deutschland strömen.“
Geregelte Zugänge anbieten
Eine Welt ohne Migration ist utopisch, glaubt Times of Malta:
„Die Debatte zur Migration dreht sich nach wie vor um Grenzkontrollen und Sicherheit, statt sich damit zu befassen, wie man denjenigen, die Sicherheit suchen, zugängliche und geregelte Wege der Migration bieten kann. ... Solange sich maltesische und europäische Behörden nicht von einer sicherheitsorientierten Sichtweise auf Migration lösen und einem innovativem System fairen Zugangs zuwenden, wird Migration immer als ein Problem wahrgenommen werden, das es zu stoppen gilt und nicht als natürlicher Vorgang der Menschheitsentwicklung. ... Ein neuer Ansatz und eine gerechte Politik sind dringend erforderlich. Sonst ist unser System auch nicht besser als das von Schmugglern, Menschenhändlern und kriminellen Organisationen.“
Einfach mal richtig zuhören und hinschauen
El País kritisiert eine arrogante Ignoranz vonseiten Brüssels:
„Wenn Europa zuhören würde, was die Neuankömmlinge zu sagen haben, wüsste es, dass die gefürchteten Schlepper nicht Ursache, sondern nur Mittel sind. Niemand hat die Migranten betrogen. Sie wissen sehr wohl, welche Risiken auf sie warten. ... Deshalb funktionieren auch die von der EU finanzierten Informationskampagnen in Afrika nicht. ... Und trotzdem ist das einer der zehn Lösungsvorschläge von der Leyens. Die Flüchtlinge kommen, weil sie keine Alternative sehen. ... Es ist nicht so, dass es keine Lösung gäbe; sie ist nur nicht dort, wo wir sie suchen. ... In ihrer Arroganz wiederholt die EU Formeln, die wenig mit der Realität zu tun haben.“
Grenzkontrollen verstärken
Gar nicht zufrieden mit der aktuellen Situation ist Berlingske:
„Wenn es uns jemals gelingen soll, den Strom von Flüchtlingen in sinkenden Schlauchbooten über das Mittelmeer einzudämmen, bedarf es weit mehr als der humanitären Aufnahme von Asylbewerbern in Europa. Viel zu viele bekommen ohnehin keinen Flüchtlingsstatus und es fällt uns dann schwer, sie abzuschieben. Deshalb müssen wir sowohl legale Einwanderungskanäle sichern als auch eine konsequente Politik gegenüber Illegalen verfolgen. Hier können wir uns nicht mit europäischen Lösungen zufrieden geben. EU-Abkommen mit Ländern wie der Türkei und Tunesien können einiges bewirken, aber es besteht auch die Notwendigkeit, dass die Länder an den Außengrenzen der EU die Grenzkontrollen verstärken.“
Es gibt keine Zauberlösung
Selbst wenn es eine Einigung auf ein gemeinsames EU-Asylsystem geben sollte, ist es völlig offen, ob es Migration besser steuert, warnt die Welt:
„Viele Experten gehen davon aus, dass die Mittelmeerstaaten auch künftig keinen Anreiz haben werden, alle Migranten, die bei ihnen ankommen, ordentlich zu registrieren und ihr Asylgesuch zu bearbeiten. Viele dürften weiter in den Norden wandern und dann wieder in Frankreich, Deutschland oder den Benelux-Staaten um Asyl suchen. Eine neue Krise ist programmiert. Soll man die europäischen Pläne deswegen begraben? Nein. Es bleibt sinnvoll, auf den Schutz der Außengrenze zu setzen. Aber man sollte nicht so tun, als gäbe [es] die eine 'Zaubermaßnahme', wie SPD-Chef Lars Klingbeil warnte.“
Letzte Chance für liberales Europa
Die radikale Rechte könnte in der Migrationspolitik bald das Sagen haben, warnt die Neue Zürcher Zeitung:
„Wenn bei den kommenden Urnengängen in Polen, den Niederlanden und bei den Europawahlen nächstes Jahr der Durchmarsch von Rechtsaussenparteien verhindert werden soll, dann muss das liberale Europa die Probleme jetzt beim Schopf packen. ... '[L]ösen' lässt sich das Migrationsproblem nicht, wie die rechten und die linken Vereinfacher vorgaukeln. Migration ist eine Aufgabe, die mit Ausdauer und Augenmass bearbeitet werden muss. Daran hat es lange gefehlt. ... Es geht um eine letzte Chance für jene, die Migration regulieren wollen. Wird sie vergeben, drohen in Europa die Abriegler zu übernehmen.“
Die Politik sucht Sündenböcke
Der Fokus auf den Migrationsdiskurs lenkt von den wahren Ursachen vieler Probleme ab - und das ist einigen mehr als recht, beobachtet Új Szó:
„Die Populisten, die Asylbewerber ausschließen wollen und die Klimakatastrophe ignorieren, haben nun in der ganzen EU eine Rekordunterstützung. Es ist verständlich, dass die Wähler von den etablierten Politikern enttäuscht sind. ... Aber dass sie nun extremen Populisten vertrauen, ist ein gesellschaftliches Versagen. ... Dass es in der Slowakei kein Geld für Sozialprogramme, Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitwesen gibt, liegt nicht an den Asylbewerbern, sondern an den Politikern und ihren oligarchischen Sponsoren, die jetzt das Volk gegen sie aufhetzen.“
Selbsttäuschung wird als Pragmatismus verkauft
Die Strategie der EU ist völlig fehlgeleitet, meint La Libre Belgique:
„Indem sich die EU darauf versteift, ihre Migrationssorgen vor allem durch Abkommen mit Drittstaaten zu lösen, belügt sie sich selbst. ... Die gegenwärtige 'Krise' ist in erster Linie das Ergebnis der europäischen Strategie, in Partnerschaft mit Staaten entlang der Migrationsrouten die 'Festung Europa' zu errichten. ... Man wird uns sagen, dass es sich dabei um Pragmatismus handelt. Dass wir, um unsere Grenzen zu 'schützen', bereit sein müssen, unsere Werte zu kompromittieren und Geld an Regime zu zahlen, die Menschenrechte und Demokratie nicht achten. ... Vor lauter Illusionen über diese Partnerschaften hat die EU absichtlich vergessen, dass sie sich zuallererst eine interne Migrations- und Asylpolitik zulegen muss.“
Es braucht mehr Härte und Konsequenz
Die Lösungen stünden bereit, sie müssten nur durchgesetzt werden, meint der Kurier:
„Jedes Jahr Tausende Tote im Mittelmeer, ein chaotisches und ungerechtes Asylsystem und Treibstoff für den Aufstieg europäischer Rechtspopulisten. … Europa muss jetzt endlich durchsetzen, worauf sich seine Innenminister im Juni geeinigt haben: Sehr viel schnellere Asylverfahren, mehr und sofortige Rückführungen und die Errichtung von großen Anhaltezentren an den Außengrenzen, wo Migranten schlimmstenfalls einige Wochen kaserniert bleiben müssen, bis feststeht: Dürfen sie bleiben oder müssen sie zurück? Im Grunde wäre das sehr viel mehr Härte und Konsequenz, als Europa bisher in seiner halbherzigen Migrationspolitik an den Tag gelegt hat.“
Genau die falschen Rezepte
El País findet Europas Kurs unmenschlich:
„Das Klima und die von China und Russland geförderte enorme Korruption verhindern, dass sich der afrikanische Kontinent in Richtung Fortschritt entwickelt - was unabdingbar ist, wenn Europa eines Tages den Konflikt an seinen südlichen Grenzen abschütteln will. Es sind zudem genau die falschen Rezepte, mit denen man derzeit die Wahlen in Europa gewinnt: Sie zielen darauf ab, Leichtgläubige und Gleichgültige zu überzeugen. Wir werden mehr und mehr von einer reaktionären Front lokaler Nationalisten geführt. Australien isoliert Migranten auf Inseln und Saudi-Arabien schießt an seinen Grenzen auf Äthiopier. So weit sind wir noch nicht, aber wir sind auf dem Weg.“
Rom verletzt Menschenrechte
Italiens Regierung hat zur Eindämmung der irregulären Migration über das Mittelmeer unter anderem das Militär beauftragt, spezielle Abschiebelager einzurichten. Avvenire ist empört:
„Nachdem sie die Idee aufgeworfen hat, dass Asylsuchende aus Afrika einen nationalen Notstand darstellen, und das Aufnahmesystem abgebaut hat, ist sie nun offenkundig in Not, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Sie versucht dies, indem sie bereits erfolglos erprobte Maßnahmen wieder aufgreift und weitere einführt, deren Umsetzung zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. ... Die Gesamtzahl der Anlandungen liegt [2023] bei fast 130.000. Viel mehr als in den Vorjahren, was beweist, dass Flüchtlinge den Seeweg nicht etwa wegen der NGO-Seenotrettung oder früherer Regierungen gewählt haben, sondern aus viel tieferen und tragischeren Gründen.“
Vorhersehbar wie Plattentektonik
In seinem Leitartikel fordert Le Figaro-Chefredakteur Patrick Saint-Paul ein neues EU-Migrationspaket:
„Kam die Lampedusa-Krise unerwartet? Ganz im Gegenteil! Kriege, Armut, dazu der Klimawandel und die explosionsartige Bevölkerungszunahme in den vulnerabelsten Ländern haben die Migrationsströme zu einem ebenso vorhersehbaren Phänomen gemacht wie die Plattentektonik. Aber Europa ist planlos. ... Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer zusammentun und endlich ein neues Migrationspaket verabschieden. Über die notwendige Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern hinaus ist der Schutz der EU-Außengrenzen von entscheidender Bedeutung. Nur so kann die den Europäern so wichtige Bewegungsfreiheit innerhalb der EU gewährleistet werden.“
EU-Rat müsste weiteren Abkommen erst zustimmen
Die Strategie, weitere Abkommen wie das mit Tunesien zu schließen, wird nicht so ohne weiteres aufgehen, erinnert La Stampa und führt ein Rechtsgutachten des EU-Rates an:
„Die Vereinbarung mit Tunesien wurde 'unter Missachtung der Verfahren' unterzeichnet. ... Von der Leyen hat das Abkommen - in Begleitung von Giorgia Meloni und dem niederländischen Premier Mark Rutte - ohne die vorherige Genehmigung des Rates, somit der anderen Regierungen, unterzeichnet. Das Gutachten enthält eine Warnung: Abkommen mit anderen Ländern können nicht mehr ohne die vorherige Zustimmung der anderen EU-Staaten unterzeichnet werden. Ballast für Meloni und von der Leyen, die hingegen das Tunesien-Modell gerne mit anderen nordafrikanischen Partnern, angefangen bei Ägypten, wiederholen möchten.“
Uneinigkeit könnte Union zerreißen
Für die Zukunft der EU sieht es düster aus, meint The Daily Telegraph:
„Wenn sich die EU in der grundsätzlichen Frage des Umgangs mit Einwanderern nicht einigen kann, welche Existenzberechtigung hat sie dann überhaupt? Das Thema Migration könnte die EU sprengen. Wenn ehemals migrantenfreundliche Länder wie Deutschland und Schweden nichts mehr mit Zuwanderern zu tun haben wollen, die an Europas Südküste ankommen, dann wird bald jede Form von Solidaritätsbereitschaft in der EU Geschichte sein. Dies wiederum wird unweigerlich eine heftige Reaktion jener Länder hervorrufen, die den Migrationsströmen besonders stark ausgesetzt sind. ... Es wäre fahrlässig darauf zu wetten, dass die EU die Flüchtlingskrise übersteht.“
Kein Problem, sondern viele Chancen
El Periódico de Catalunya fordert einen radikalen Kurswechsel:
„Die wüste rechtsradikale Rhetorik bietet keine Zauberformel. ... Giorgia Meloni versprach, die Anlandungen zu beenden, aber die Realität überrollt sie. ... Auch in Deutschland nehmen die Spannungen zu: Immer mehr Menschen kommen über die tschechische und polnische Grenze ins Land. ... Europas Problem ist, dass niemand legal einreisen kann, obwohl wir die Einwanderer brauchen. Es ist unglaublich, dass die EU keine Einwanderungsgenehmigungen am Herkunftsort erteilt und legale Arbeitsverträge am Zielort vergibt. Die Ankommenden als Barbaren zu behandeln hilft nicht, den Zustrom zu stoppen. Vielleicht sollten wir sie als Menschen behandeln: Dann haben wir kein Problem mehr, sondern viele Chancen.“
Salvini will Meloni rechts überholen
Die Sache ist für Meloni als Chefin der rechten Regierungskoalition ein großes politisches Risiko, analysiert De Standaard:
„Als Premierministerin mäßigte sie ihren Ton und sah schnell ein, dass es keine Wunderlösung gibt. Im vergangenen Jahr nahm der Zustrom von Bootsflüchtlingen unter ihrer Regierung spektakulär zu. Das macht ihre Politik angreifbar, und der gefährlichste Rivale sitzt im eigenen Regierungslager. Vizepremier Matteo Salvini findet alle Mittel zulässig, um Boote zu stoppen, auch den Einsatz der italienischen Marine. ... Salvinis scharfe Aussagen muss man eher als Startschuss seines Wahlkampfes für die Europawahl im nächsten Jahr verstehen. Dann will er Meloni noch weiter rechts überholen.“