Aserbaidschan greift Armenier in Bergkarabach an
Aserbaidschanische Truppen haben am Dienstag die Region Bergkarabach angegriffen. Dabei sind die Regionalhauptstadt Stepanakert sowie weitere Städte beschossen worden. Der Vertretung Bergkarabachs in Armenien zufolge wurden mindestens 27 Menschen getötet und Hunderte verletzt. Europas Presse ist zutiefst besorgt um die überwiegend von Armeniern bewohnte und sich selbst als unabhängig verstehende Enklave auf aserbaidschanischen Gebiet.
Von Russland aufgegeben
Putin hat sein Versprechen gebrochen, stellt La Stampa fest:
„Obwohl sich Putin zum Verteidiger der christlich-orthodoxen Zivilisation erklärt hat, hat Russland die Enklave praktisch aufgegeben. Es unterhält zwar ein Kontingent von Friedenstruppen, hat aber drei Monate lang nichts oder fast nichts gegen die von Baku verhängte Blockade unternommen, die den einzigen Zugang zu der Region, den Latschin-Korridor, der erschreckend an den Danziger Korridor erinnert, versperrte und eine beispiellose humanitäre Krise ausgelöst hat. … Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan erkannte – vermutlich zu spät - den Gesinnungswechsel des Zaren, der mehr an der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zur Türkei als an der Rettung seiner Glaubensbrüder interessiert ist.“
Zerrieben zwischen geopolitischen Interessen
Der Standard analysiert:
„Einerseits ist Russland militärisch in der Ukraine stark gebunden. Andererseits will Russland es sich nicht mit der Türkei, der Schutzmacht Aserbaidschans, verscherzen. Für Russland ist die Türkei ein wichtiger Partner, das Land trägt die Sanktionen des Westens im Ukrainekrieg nicht mit, viele sanktionierte Waren kommen über die Türkei ins Land. Wieder einmal wird Bergkarabach, vielleicht sogar Armenien, zerrieben zwischen allen möglichen weltpolitischen Interessen. Wahrscheinlich ist, dass der Westen jenseits warmer Worte und Verurteilungen nicht allzu viel unternehmen wird. Denn im Unterschied zur Ukraine ist Armenien geostrategisch und auch wirtschaftlich uninteressant.“
Von allen im Stich gelassen
Avvenire klagt:
„Die 2.000 von Russland mobilisierten Friedenskräfte waren nicht in der Lage, die Schließung des Latschin-Korridors seitens Aserbaidschan zu verhindern, noch ihn wieder zu öffnen, als die Armenier zu verhungern drohten. Armeniens Premier Paschinjan wandte sich daraufhin an die USA. … Doch warum sollten die Amerikaner sich gegen einen historischen Verbündeten wie den aserbaidschanischen Präsidenten Alijew und das Nato-Land Türkei stellen? Auch Europa ist nicht gewillt, sich zu bewegen. Der Hohe Vertreter für Außenpolitik Borrell hat Sanktionen gegen Aserbaidschan ausgeschlossen, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum: Nachdem kein russisches Gas mehr floss, haben wir die Aserbaidschaner gebeten, uns 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr statt der üblichen 8 zu liefern. Können wir es uns da mit Alijew verscherzen?“
Moskaus Einfluss schwindet
Russland verliert die Kontrolle an den Rändern seines Einflussbereichs, beobachtet Večernji list:
„Russland sagte gestern, es sei tief beunruhigt wegen der 'schweren Eskalation'. Doch die Aserbaidschaner schert das nicht, hinter ihnen steht ein starker Verbündeter - die Türkei. ... Neben dem Kaukasus brodelt es auch zwischen Kirgisistan und Tadschikistan, zwei angeblichen Verbündeten und Partnern Russlands, die sich für mögliche neue Grenzkonflikte aufrüsten, wie sie dort periodisch ausbrechen. In Kasachstan und Tadschikistan wächst der chinesische Einfluss, während in mehreren postsowjetischen Staaten Erdoğan immer beliebter wird. Alles entgegen den Interessen von Putins Russland, doch ist dieses völlig im Existenzkampf mit der Ukraine beschäftigt.“
Der Westen muss sich auch um Armenien sorgen
Eine wachsende Instabilität in Armenien könnte Russland für sich nutzen, befürchtet hingegen Rzeczpospolita:
„Vieles deutet darauf hin, dass in den kommenden Tagen nicht nur das Schicksal Bergkarabachs, sondern auch das Armeniens auf dem Spiel steht. Sollte es den Demonstranten gelingen, Paschinjan zu stürzen und die armenischen Streitkräfte zur Konfrontation mit Aserbaidschan zu bewegen, wäre die Souveränität des Landes bedroht und ein Eingreifen Russlands (das dort eine Militärbasis unterhält) wahrscheinlich. ... Die demokratisch gewählte und seit kurzem um eine Annäherung an den Westen bemühte Regierung in Jerewan würde durch prorussische Kräfte ersetzt. ... Nun wird alles davon abhängen, wie sich die Führungen der westlichen Mächte verhalten.“
Paris fehlt der Wille zum Helfen
Le Figaro veröffentlicht einen offenen Brief des Philosophen Pascal Bruckner an den französischen Präsidenten Macron:
„Angesichts der Ereignisse enttäuscht uns Ihre ungeheure Tatenlosigkeit. ... Frankreich ist nicht isoliert, nicht hilflos, nicht machtlos: Es kann schon jetzt den Sicherheitsrat anrufen, um eine Verurteilung Aserbaidschans zu erwirken und dieses auffordern, den Zugang nach Bergkarabach freizugeben - unter Androhung eines Armeeeinsatzes, falls nötig. Frankreich hätte dies seit dem Sommer tun können und müssen. Zudem kann es helfen, das Land aus dem Europarat auszuschließen, internationalen Schutz für Bergkarabach zu fordern und gemeinsam mit anderen europäischen Ländern eine Luftbrücke einzurichten. … Die Mittel sind da, es fehlt nur der Wille.“