Polen und Ukraine: Warum auf einmal Streit?
Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat des polnischen Premiers sorgt international für Aufsehen. In einem Interview sagte Morawiecki: "Wir liefern schon keine Rüstungsgüter mehr an die Ukraine, sondern rüsten uns selbst mit den modernsten Waffen aus." Ukraines Präsident Selenskyj reagierte mit scharfer Kritik. Europas Presse kommentiert den Streit im Kontext der Importverbote für Agrarprodukte und dem Wahlkampf in Polen.
Das Trumpf-Thema im Wahlkampf
Der Umgang mit der Ukraine eignet sich für die verschiedenen Parteien als Thema im Wahlkampf, kommentiert die Bloggerin Olena Monova per Facebook:
„Für die Länder, die gerade Wahlkampf haben (und deren Regierungen uns helfen, den Kampf zu bestehen und zu gewinnen), ist es praktisch, die Ukraine als Trumpf in ihrer Wahlkampfrhetorik einzusetzen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es für sie BEQUEM ist, wir sind ein bequemes Argument in der politischen Auseinandersetzung, um bei Wahlen punkten zu können.“
Demagogie mit gefährlichen Konsequenzen
Le Monde kritisiert Polens Wahlkampfmanöver:
„Das [von Polen veranstaltete] Spektakel der Wahlkampfdemagogie ist an sich schon verabscheuungswürdig. Dass es zu einer Kehrtwende in der Unterstützungspolitik für die Ukraine führt, deren engster Verbündeter und enthusiastischster Fürsprecher für den EU-Beitritt bislang Polen war, ist gefährlich. Der Getreidestreit hätte anders gelöst werden können, wie es Rumänien und Bulgarien zeigen, die ihrerseits der Ukraine beim Weizenexport helfen.“
Nicht nur an die Wahl denken
Anti-ukrainische Rhetorik im Wahlkampf einzusetzen, ist ein Spiel mit dem Feuer, warnt auch Rzeczpospolita:
„Es ist auch auf lange Sicht ein Fehler, in einer Situation, in der wir anderthalb Millionen (oder vielleicht mehr) Migranten und Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen haben, anti-ukrainische Emotionen zu wecken. Die große Mehrheit wird in unserem Land bleiben, und es ist sehr wahrscheinlich, dass einige Ehemänner noch von ihren Frauen und Kindern nachgeholt werden. Die Ukrainer sind also die wichtigste ethnische Minderheit in Polen. Und genau deshalb ist es gefährlich, Ressentiments zu schüren, zumal die Emotionen, wenn sie einmal freigesetzt sind, viel länger anhalten als nur für die Dauer des Wahlkampfspektakels.“
Warschau manövriert sich ins Abseits
Polen verspielt mit dem Streit seinen internationalen Einfluss, meint der Politikanalyst Sorin Ioniță in Contributors:
„Der Streit mit der Ukraine ist auch ein Beweis für die Selbstmarginalisierung Polens in der EU. Kyjiw scheint den Beziehungen zu Warschau weniger Aufmerksamkeit zu schenken und ist sogar bereit, sie zu opfern, auch weil der Einfluss Warschaus in der EU als Unterstützer der Ukraine abgenommen hat. Im Hinblick auf die anstehende Debatten über die EU-Reform, die EU-Erweiterung und den Wiederaufbau orientiert sich die Ukraine jetzt wieder an jenen Ländern, die in der EU am wichtigsten sind: Deutschland und Frankreich.“
Bitte nicht an die ganz große Glocke hängen
Sehr bedauerlich findet Postimees, dass beide Seiten diesen Interessenkonflikt vor der Weltöffentlichkeit austragen:
„Selbst wenn ein Teil der Äußerungen Morawieckis falsch zitiert wurde oder angeblich nicht ganz beabsichtigt war, ist ein öffentlicher Streit mit einem der bisher aktivsten Unterstützer der Ukraine sehr bedauerlich. Auch war die UN-Generalversammlung nicht der beste Ort für die Ukraine, um einem Verbündeten Vorwürfe zu machen. ... Auf keinen Fall hätte der polnische Premier eine so markante Erklärung abgeben dürfen.“
Für ein paar Wählerstimmen das Land diskreditiert
Der PiS-Wahlkampf in Polen schadet dem ganzen Land, ärgert sich Polityka:
„Indem er diesen einen Satz in den Äther entließ, hat Morawiecki Polen möglicherweise mehr geschadet als mit dem ganzen bisherigen Getreidestreit. ... Die PiS spielt in diesem Wahlkampf mit Dingen von strategischer Bedeutung: Verteidigungspläne, Geheimnisse, die ein Geschenk für ausländische Geheimdienste sind, sie spielt auch mit dem sehr riskanten Thema der anti-ukrainischen Ressentiments. Wir haben uns gerade der Kritik der Weltöffentlichkeit ausgesetzt, damit diese Partei ein paar Punkte bei ihrer eigenen Anhängerschaft macht.“
Dummer Zeitpunkt
Echo24 hält den Streit um Getreide und Waffen für übertrieben:
„Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ukrainer den Polen nicht ein wenig auf die Nerven gehen. ... Kyjiw würde definitiv von etwas Bescheidenheit und einer umsichtigeren Diplomatie profitieren. Es war besonders dumm, diesen Streit wenige Wochen vor den polnischen Wahlen zu beginnen, wo es sich die Regierung in Warschau nicht leisten kann, nachzugeben, um nicht schwach auszusehen. Die Ukrainer scheinen zu erkennen, dass sie zu weit gegangen sind, und beginnen, den Gang zu wechseln. In den kommenden Tagen will man sich zu Getreideverhandlungen treffen. Und der ukrainische Botschafter in Warschau sagte, dass niemand in der Ukraine den polnischen Bauern Probleme bereiten wolle.“
Perspektiven für Kyjiw verdüstern sich
Der Fall zeigt eher langfristige Probleme auf, so Le Temps:
„Kaum ausgesprochen wurde die Androhung gegenüber der Ukraine abgeändert und abgeschwächt. Sie machte zu schlechten Eindruck. Zumindest in unmittelbarer Zukunft scheint es wenig wahrscheinlich, dass diese Zuspitzung in Polen in irgendeiner Weise den Kriegsverlauf in der Ukraine tangiert. Die Botschaft steckt eher woanders. Der Zwischenfall zeigt, wie sehr die nationalen Egoismen hinter dem Anschein eines gegen den russischen Aggressor geeinten Europas vielerorts verdeckt werden, aber im Hinterhalt lauern. Angesichts eines sich verlängernden Kriegs lässt dieser Fieberschub nichts Gutes ahnen für eine künftige vollständige Aufnahme der Ukraine in die EU.“
Putin nicht auf den Leim gehen
Die Verbündeten dürfen sich in der Getreidefrage nicht zerstreiten, mahnt Pravda:
„Es ist in Ordnung, wenn wir Vorbehalte gegenüber den ukrainischen Getreideexporten haben. Das ist Teil internationaler Politik und ein legitimes Diskussionsthema. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, wer uns in diesen 'peinlichen Schlamassel' gebracht hat. ... Putin verfügt nicht nur über eine Energiewaffe, sondern auch eine aus Getreide. Und mit der schlägt er erfolgreich drei Fliegen mit einer Klappe: Er lähmt die ukrainische Wirtschaft, destabilisiert den europäischen Markt und schädigt die Beziehungen westlicher Verbündeter. Es liegt jedoch an uns, ob wir Putin auf den Leim gehen.“