Warum stellt sich Erdoğan auf die Seite der Hamas?
Der türkische Präsident Erdoğan hat Israel als "Kriegsverbrecher" und die Hamas als eine "Gruppe von Befreiern" bezeichnet. Zuvor hatte er sich noch als möglicher Vermittler zwischen Israel und der Hamas präsentiert. Kommentatoren debattieren, was diese Haltung für Folgen haben könnte und sollte.
Zweierlei Maß
Der Kolumnist Şener Levent wünscht sich in Politis mehr Kritik an Ankara :
„Wir nennen Israel eine Besatzungsmacht. Wir nennen die Türkei nicht so. Wir nennen Israel barbarisch, wenn es die Palästinenser unterdrückt und wir erheben unsere Stimme nicht, wenn die Türkei die Kurden unterdrückt. Wir sind solidarisch mit den Palästinensern in israelischen Gefängnissen und rühren keinen Finger für die politischen Gefangenen in türkischen Gefängnissen. Wir verteidigen das Recht der Palästinenser, die vertrieben wurden, in ihr Land zurückzukehren, und wir verteidigen nicht das Recht der Zyperngriechen, die vertrieben wurden, zurückzukehren. … Wir fordern nicht einmal für uns selbst die Menschenrechte, die wir für das palästinensische Volk fordern.“
Für Kurdenorganisationen gilt diese Milde nicht
Auch für Duma sind Erdoğans Worte inkohärent:
„Die Erklärung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wirkt wie eine fehlgeleitete Rakete, die wie ein Bumerang zu ihm zurückfliegen wird. ... Er müsste sich nun verbiegen und die PKK ebenso als nicht terroristische Organisation, sondern als Befreiungsgruppe bezeichnen, die für die Verteidigung des kurdischen Landes und für die Unabhängigkeit kämpft. Es stimmt zwar, dass die PKK und ihre syrischen Ableger Anschläge verüben, bei denen Unschuldige getötet werden, aber wenn Erdoğan der Meinung ist, dass bei der Hamas der Zweck die Mittel heiligt, sollte das gleiche Prinzip auch für die PKK gelten.“
Strategische Sorge um Palästinenser
Erdoğan tanzt auf allen Hochzeiten, analysiert Večernji list:
„Die AKP und die Hamas pflegen die gleiche Ideologie: die der Muslimbruderschaft. Deshalb hat Erdoğan ein außerordentlich gutes Verhältnis zur Hamas. ... Erdoğan möchte die Chance ergreifen, sich als großer Führer aller Muslime zu beweisen und zu zeigen, dass er sich neben dem Iran am meisten um die Palästinenser sorgt. Es ist bekannt, dass pro-iranische militante Organisationen US-Interessen in Syrien und Irak angreifen. Und der mächtige Erdoğan wetteifert mit dem Iran in der Unterstützung von Palästina um die Sympathien der Muslime, während er daran festhält, dass die Türkei Teil der Nato ist und als solche auch Bedeutung in der westlichen Welt hat.“
Alles nur Pragmatismus
Mladá fronta dnes erkennt keine ideologischen Grundsätze:
„Nein, Erdoğan ist nicht wirklich ein Unterstützer der Hamas, sondern nur ein Pragmatiker, der bereits im September die Beziehungen zu Israel stärkte, wohl wissend, dass er daraus Gewinn ziehen könnte. ... Jetzt werden die Straßen muslimischer Länder, darunter der Türkei, von Menschen überschwemmt, die Vergeltung gegen Israel fordern. Da muss der Präsident mit den Wölfen heulen. ... Übrigens hat Erdoğan auch seine 'Terroristen', wie er die Kurden nennt, die er noch schlechter behandelt als Israel die Palästinenser. Haben sie nicht das Recht auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat? Erdoğan misst mit zweierlei Maß und stellt sich geschickt auf die Seite, die seine Macht stärkt.“
Das kann die Nato nicht länger hinnehmen
Auch für die Nato muss das Verhalten Erdoğans Konsequenzen haben, stellt Zeit Online klar:
„Man muss sich von dem Gedanken lösen, dass die Türkei sich selbst als Teil einer Allianz sieht. Dass sie als Mitglied der Nato bedingungslos zum Verteidigungsbündnis mit all seinen Werten steht, auch in Krisen wie dieser. Die Türkei und ihr Präsident haben ein rein strategisches Verhältnis zur Nato und zum Westen. Es ist das erklärte Ziel ihrer Außenpolitik, jederzeit mit verschiedenen Partnern eigenständige Beziehungen pflegen zu können - immer entlang der eigenen Interessen. Selbst mit der Hamas. Das kann die Nato nicht länger akzeptieren.“
Ohne Ankara geht es nicht
Warum die Türkei für die Nato zu wichtig ist, um einen Bruch herbeizuführen, erklärt Welt:
„Ankara [hat] ... die Ukraine früher als alle anderen Nato-Länder mit Waffen versorgt, den Zugang für russische Schiffe zum Schwarzen Meer wegen des Ukraine-Kriegs eingeschränkt, Getreideabkommen zwischen Kiew und Moskau vermittelt und verhindert, dass die international anerkannte Regierung in Libyen unter dem Druck der Rebellen aufgeben musste. Außerdem teilt Ankara wichtige Geheimdienstinformation mit Washington über Russland und Iran. Zudem beherbergt die Türkei ein Nato-Hauptquartier, zwei Luftwaffenstützpunkte und ein wichtiges Frühwarn-Radarsystem der Allianz.“
Poker um die muslimische Führungsrolle
Radio Kommersant FM sieht im Hintergrund des Gaza-Konflikts auch ein Kräftemessen in der islamischen Welt:
„Seit jeher kämpfen die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien um die Führung in der islamischen Welt. … Eine Lösung des Gaza-Problems könnte für alle eine ernsthafte Bewerbung um den Sieg sein. Bekanntlich ist die Palästina-Frage fast das Einzige, was die islamische Welt eint. Für den Iran wäre es natürlich das Beste, die Dinge zu belassen, wie sie sind. Seine Strategie ist Chaos und die Unterstützung diverser Terrorgruppen. Aber Türken und Saudis träten gerne als Organisatoren und Garanten eines florierenden Gazastreifens auf. Diese Bemühungen erklären Erdoğans Drohungen.“
Türkische staatliche Imame ausweisen
Für den Umgang Deutschlands mit der Türkei muss das Folgen haben, stellt die Welt klar:
„Eine erste angemessene Antwort wäre, die in den 80er-Jahren getroffene Zusammenarbeit mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet aufzukündigen und die rund tausend Imame, die als Beamte des türkischen Staates an den Moscheen des Ditib-Verbandes tätig sind, außer Landes zu weisen. ... Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk wollte für die Türkische Republik nicht weniger als dass sie sich dem 'Niveau der zeitgenössischen Zivilisation' anschließt, dieses sogar überbietet. Ein Jahrhundert später platziert Erdogan die Türkei nicht nur außerhalb des Westens, sondern auch außerhalb der zivilisierten Welt.“
Jegliches Vertrauen verspielt
Auf Erdoğan ist null Verlass mehr, meint Visão:
„Erst mit der Ukraine und jetzt mit Israel wächst das Gefühl des totalen Misstrauens gegenüber seiner politischen und militärischen Ausrichtung. Die Türkei ist ein sehr mächtiges und wichtiges Land für den Westen, aber man kann Erdoğan nicht trauen. ... Er wird immer unzuverlässiger. Wenn Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zur Anwendung käme, wäre Erdoğan (nicht zu verwechseln mit der Türkei) der erste, der sich über die Nato hinwegsetzen und austreten würde. Er erlaubt gewissen Türken nicht, in Schweden Zuflucht zu suchen, beherbergt aber selbst illustre Mitglieder von 'Befreiungsbewegungen' wie Hamas, Hisbollah, Islamischer Dschihad und einer endlosen Liste anderer Terrororganisationen. “
Hetze gegen den Westen
Erdoğan stachelt die muslimische Gemeinschaft auf, meint republica.ro:
„Die Türkei wird keine Truppen nach Gaza schicken, sie wird Israel nicht angreifen, aber die Muslime von Pakistan bis Amerika sind jetzt mobilisiert. ... Erdoğan stützt sich auf die transnationalen, weltweiten Verbindungen zwischen den Muslimen. Er versucht zu erreichen, dass sich die muslimische Straße gegen den Westen erhebt, aber auch gegen die moderaten arabischen Anführer, wie aus Ägypten und Jordanien oder selbst die Palästinensische Autonomiebehörde.