100 Jahre Türkei: Wie steht es um Atatürks Erbe?
Am Sonntag hat die Türkei das 100-jährige Bestehen der Republik gefeiert. Präsident Erdoğan ehrte den Staatsgründer Atatürk mit einem Kranz. Es gab Militärparaden und Feuerwerk, andere Feierlichkeiten wurden vor dem Hintergrund des Kriegs im Gazastreifen abgesagt. Atatürk hatte ab 1923 säkulare Reformen nach westlichem Vorbild durchgesetzt. Kritiker werfen Erdoğan vor, diese schrittweise rückgängig zu machen. Europas Presse bilanziert.
Rechtsstaatsprinzip am Ende
Das Justizsystem ist nur noch eine Farce, schimpft T24:
„Leider kann man sich ein sehr klares Bild davon machen, wo das Rechts- und Justizsystems der Republik nach 100 Jahren angelangt ist: Regionale Gerichte, die unverhohlen die Entscheidungen des höchsten Gerichts des Landes ignorieren. ... Ein Justizministerium, das es für einen unnötigen Luxus oder eine bloße Gefälligkeit hält, die von der Rechtsordnung anerkannten Rechte und Freiheiten auf diejenigen anzuwenden, die politisch nicht auf seiner Seite stehen. Eine Parlamentsverwaltung, die nicht einmal in der Lage ist, die verfassungsmäßigen Rechte ihrer eigenen gewählten Mitglieder zu verteidigen.“
Modellversuch gescheitert
Erdoğan ist kein zweiter Atatürk, schlussfolgert der Politologe Nuno Severiano Teixeira in Público:
„Zu Beginn seiner Amtszeit schien er die beiden Türkeien miteinander versöhnen zu wollen: das Osmanische Reich und die kemalistische Republik, den Laizismus und den Islam. Eine Türkei auf dem Weg zur Demokratie, und doch noch im Westen verankert. Es war eine Zeit, in der sich der Westen über das türkische Modell freute: Endlich war der Islam mit der Demokratie vereinbar, eine islamische Demokratie möglich. Die Hoffnung währte nicht lange. ... Für Atatürk bedeutete Modernisierung Säkularisierung und Verwestlichung. Für Erdoğan scheint es das Gegenteil zu bedeuten: Islamisierung und Neo-Osmanisierung.“
Vorher gab es nur Erbfolgefilz
Selbst die Feinde Atatürks haben ihre Karrieren dessen Reformen zu verdanken, erinnert Cumhuriyet:
„Hätte es die Republik nicht gegeben, hätten all die Menschen, die im Guten wie im Schlechten türkische Geschichte geschrieben haben, einschließlich Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ihr Leben als Bauernkinder fortgesetzt. Da sie nicht in der Lage gewesen wären, sich von ihrem Status als Untertanen zu lösen, hätten sie keines der heutigen Ämter und Positionen erlangt. An ihrer Stelle hätten die Kinder der Angehörigen des Sultanats gesessen, die den Staat unter sich aufteilten, Menschen mit Pascha-Titeln, die vom Vater auf den Sohn vererbt wurden. ... Wir haben Atatürk den Rücken gekehrt, sowohl als Nation als auch in der Politik.“
Ein Kampf zwischen wechselseitig Ausgeschlossenen
Mit dem Ausschluss religiös-konservativer Kreise schuf sich die Republik auf Dauer ihre eigenen Feinde, bedauert T24:
„Die Republik hat vor allem für Kinder, Jugendliche und Frauen einen neuen Horizont eröffnet. ... Mit vielen Vorteilen für die damalige Zeit und vielen Mängeln für heutige Zeiten. Das größte Problem war, dass sie nicht 'die Republik für alle' sein konnte. Nachdem dann, eines Tages, also vor 22 Jahren, diejenigen, die sich von ihr ausgeschlossen fühlten, an die Macht kamen, sind wir zunächst Schritt für Schritt, und dann im Lauftempo, in einem 100. Jahr angekommen, in dem die Ausgeschlossenen selbst jetzt jene ausschließen, die nicht zu ihnen gehören.“
Stabilität ist Grund zum Feiern
Die Missstände sollten das Jubiläum nicht zu sehr trüben, findet Autor und Türkeiexperte Jeremy Seal in The Spectator:
„Präsident Erdoğans Vision von der Zukunft der Türkei scheint im starken Gegensatz zu der von Atatürk zu stehen: Die Medien werden weitestgehend vom Staat kontrolliert. Die Justiz ist für die Inhaftierung von Schriftstellern, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionspolitikern verantwortlich. Aber zumindest der Wahlprozess scheint zu funktionieren. ... Vielleicht hätten einige Türken angesichts der Geschwindigkeit des Wandels, das Atatürk in den 1920er an den Tag legte, mehr zum 100. Geburtstag ihres Landes erwartet. Aber angesichts des Ausmaßes, in dem andere Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches derzeit zerbrechen, werde ich heute auf die Türkei anstoßen.“
Kein Platz für Minderheiten
Atatürk wird zu Unrecht immer noch als Vertreter einer modernen Türkei verklärt, meint der Tagesspiegel:
„Bereits in den 1930er Jahren verfolgte Gründervater Mustafa Kemal Atatürk eine rigorose Türkisierungspolitik, die es den Minderheiten unmöglich machte, ihre Sprache, Kultur und Traditionen zu bewahren. ... Es ist kein Zufall, dass der Ausspruch 'Ne mutlu Türküm diyene' (Glücklich ist, wer sich Türke nennen darf) bis heute als harmloser, oft sogar ehrenhafter Ausdruck eines als legitim vermittelten Nationalstolzes gilt. In der türkischen Republik war nie Platz für Minderheiten, nicht in einem einzigen Jahr ihres hundertjährigen Bestehens.“
Der dritte Weg in Gefahr
Der Politologe Jaime Nogueira Pinto analysiert in Observador die Beschaffenheit des politischen Islams in der aktuellen Türkei:
„Erdoğan und die AKP haben darauf gesetzt, die Volksreligion der Massen mit dem Nationalismus der Jungtürken und Atatürks zu versöhnen. ... Erdoğan repräsentiert eine Art dritten Weg in der islamischen Welt gegenüber den reaktionären Fraktionen des iranischen Schiismus und des saudischen Salafismus; eine politisch-religiöse Synthese, konservativ und demokratisch, nationalistisch und osmanisch, die zum hundertsten Jahrestag der türkischen Republik mit den Nebenwirkungen der arabisch-israelischen Krise konfrontiert ist. Wird sie in der Lage sein, ihnen zu widerstehen?“