Humanitäre Lage in Gaza immer prekärer: Was tun?
Die israelische Regierung lehnt, solange sich noch Geiseln in der Gewalt der radikal-islamischen Hamas befinden, einen allgemeinen Waffenstillstand im Gazastreifen weiterhin ab. Premier Netanjahu erklärte aber, man sei zu "taktischen kleinen Pausen" bereit, um die Ausreise von Geiseln sowie die humanitäre Versorgung zu erleichtern, die laut Hilfsorganisationen derzeit völlig ungenügend ist. Europas Presse erörtert die Situation.
Sofortige Waffenruhe muss her
Laut Kurier ist das humanitäre Elend in Gaza erschreckend:
„Man mag sich das alles lieber nicht vorstellen: eine Notoperation ohne Narkose, in einem überfüllten Krankenhausgang mit Beleuchtung einer Taschenlampe. Schrecklicher Alltag in den meisten Spitälern im Gazastreifen. Dort gehen die Medikamente zur Neige, der Diesel für die Notstromaggregate – und das angesichts von mehr als 20.000 Verletzten innerhalb eines Monats. ... Viel, viel umsichtiger als in den vergangenen Tagen muss Israel das humanitäre Völkerrecht beachten, nämlich die Zivilbevölkerung möglichst zu schützen. Dazu gehört auch, eine eingeschlossene Bevölkerung ohne Chance auf Flucht nicht vor sich hin sterben zu lassen. Heißt so viel wie: ein paar Tage die Waffen ruhen und Hilfe nach Gaza lassen.“
Realistische Vorschläge, bitte!
Lidové noviny moniert die Kritik am Vorgehen Israels in Gaza als unfair:
„Als westliche Staaten und arabische Regierungen gegen den Islamischen Staat kämpften und das irakische Mossul mit zwei Millionen Einwohnern eroberten, überstieg die Zahl der zivilen Opfer die in Gaza [inzwischen liegt sie mit schätzungsweise 10.000 auf vergleichbarem Niveau]. Aber fast niemand hatte Einwände dagegen. Jetzt sagen alle – von Biden über Putin bis hin zu Abbas –, was Israel nicht tun sollte und tatsächlich nicht tun darf. Wo ist jemand, der sagen würde, was Israel tun soll? Was konkret, ohne dass die Hamas darin eine Kapitulation sieht?“
Bittere Versäumnisse
Gazas Bevölkerung, aber auch die Weltgemeinschaft hätten sich früher und entschiedener gegen die Hamas stellen sollen, kritisiert Jyllands-Posten:
„Man kann doch problemlos die Palästinenser und einen unabhängigen palästinensischen Staat unterstützen und gleichzeitig ausdrücklich Nein zur Hamas sagen. Hier sind es die Palästinenser, die sich selbst im Stich lassen. Das Unglück der Palästinenser sind ihre eigenen Führer. Wegen der Barbarei der Hamas ist der Traum von einem unabhängigen Staat weit in die Zukunft gerückt, sofern er jemals Wirklichkeit wird. Und die Weltgemeinschaft hat die Palästinenser im Stich gelassen, indem sie die Hamas nicht vertrieben hat.“
Europa auf der Weltbühne marginalisiert
Israels Vorgehen mit Verweis auf dessen Selbstverteidigungsrecht zu unterstützen, hat negative Konsequenzen, sagt Europa-Korrespondentin Caroline de Gruyter in De Standaard:
„Dieser Kurs kommt Europa, einst Vermittler im Nahen Osten, teuer zu stehen. Der Rest der Welt wirft uns vor, mit zweierlei Maß zu messen: einerseits russische Angriffe auf ukrainische zivile Ziele verurteilen, aber andererseits nichts sagen, wenn Israel Gaza zerstört. Wie dieser jüngste Konflikt sich auch entwickelt: Europa muss sich auf politische Marginalisierung auf der Weltbühne einstellen. Katar versucht, Geiseln, Expats und Verletzte aus Gaza zu bekommen. Über europäische Vermittlung, einst selbstverständlich, hört man nichts. “
Ohne die Nachbarländer geht es nicht
Für die Zeit nach dem Krieg wird Israel auf die arabischen Länder angewiesen sein, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Auch von ihnen wird niemand bereit sein, die Verantwortung über den Gazastreifen ganz auf sich zu nehmen. ... Aber mit vereinten Kräften wäre es zumindest vorstellbar, den zerstörerischen Einfluss Irans, der sich in der Hamas zeigt, ein Stück weit zurückzudrängen und eine Form von palästinensischer Verwaltung ohne die Hamas zu errichten. Doch Netanjahu müsste dafür auf seine Nachbarn zugehen, auch mit humanitären Gesten. Und er müsste sich wohl gegen die Extremisten in seiner Koalition stellen, die ihn bisher stützen. Dieser Preis, so scheint es, ist ihm bislang zu hoch.“
Das wird ein langwieriger Krieg
Polityka erwartet keinen schnellen Erfolg der Bodenoperation:
„Selbst wenn es keinen größeren Widerstand gibt, müssen die israelischen Streitkräfte, um die Hamas-Kämpfer zu finden, de facto zunächst einen Teil des Gazastreifens isolieren und dann gründlich durchsuchen. ... Dies ist eine Aufgabe für Monate, wenn nicht Jahre. Wenn sich der Gegner nicht selbst aus der Deckung wagt, wird es sehr schwierig sein, ihn von den Bewohnern zu unterscheiden. Sobald sich die Situation dynamisch entwickelt, werden dramatische Dilemmata und Fragen der kollektiven Verantwortung unweigerlich wiederkehren. Israel hat weder das Recht noch wird es sich erlauben, den Gazastreifen dem Erdboden gleichzumachen. Es wird sich um eine selektive und daher langwierige Operation handeln müssen.“
Schutz von Zivilisten in Israels Interesse
Die israelischen Streitkräfte sollten mehr Rücksicht auf die in Gaza lebenden Menschen nehmen, bemerkt Dagens Nyheter:
„Israel muss Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen, auch wenn dies den Krieg gegen die Hamas erschwert. Humanitäre Hilfe muss in Gaza zugelassen werden, auch wenn dies bedeutet, dass ein Teil davon in die Hände der Organisation gelangt. Es liegt auch im Interesse Israels, den Palästinensern zu zeigen, dass sie hinter der Hamas her sind und nicht hinter ihnen. Im Mittelpunkt muss das übergeordnete Ziel stehen, Sicherheit für Israel zu schaffen. Es erfordert, dass das Land präzise handelt, die Vernunft walten lässt, und so vielleicht nicht Unterstützung, aber doch Verständnis für sein Handeln in der Außenwelt wieder aufbaut.“
In die Falle getappt
Die Hamas ist jetzt schon der politische Sieger, stellt NRC-Kolumnist Luuk van Middelaar fest:
„Gerade weil es in Gaza Tausende palästinensische Tote gibt, siegen die Terroristen in der Schlacht um die öffentliche Meinung in der arabischen Welt und weit darüber hinaus. Mit den blutigen Terrorangriffen auf Israel am 7. Oktober legte Hamas eine politische Falle, Israel und die USA fielen hinein. ... Niemand weiß, wie Netanjahu mit einer Bodenoffensive den Feind ausschalten will, ohne zugleich für drei Generationen Hass und Ressentiment und damit den Boden für neue Hamas-Kämpfer zu säen. ... Es ist der Hamas gelungen, die palästinensische Frage als Brandstoff für die eigene Sache erneut zu entfachen. ... Unter der Flagge des revolutionären Widerstandes mobilisiert sie weltweit Millionen Muslime.“
Westliche Demokratien im Dilemma
Nahost-Experte und Journalist Imants Frederiks Ozols gibt in Latvijas Avīze zu bedenken:
„Wir wissen nicht, ob wir uns darauf verlassen können, dass die Menschen in unseren westlichen Staaten für die gleiche Politik stehen wie ihre Regierungen. Zum Beispiel sind wir als westliche Regierung pro-israelisch, weil wir sehen, dass Israel angegriffen wurde und nicht umgekehrt, aber gleichzeitig sind unsere Leute auf der Straße dagegen. ... Dies ist beispielsweise in Frankreich, Deutschland oder den USA, wo es sehr große muslimische Communities und auch einen extrem großen Einfluss muslimischen Geldes auf die Geschäftsstrukturen gibt, ein Riesenproblem.“
Unzählige zivile Opfer zu erwarten
Der Tages-Anzeiger entdeckt Parallelen zum Vorgehen gegen den IS im Irak:
„Offenbar wollen sie dabei ähnlich vorgehen wie das amerikanische Militär im Oktober 2016 bei der Befreiung des irakischen Mossuls von der Herrschaft des Islamischen Staats. IS-Kämpfer versteckten sich dort in Tunneln und Höhlen, genauso wie heute die Hamas-Terroristen in Gaza. Die US-Soldaten gingen langsam vor und setzten eine Mischung aus Kommandoeinsätzen und Drohnenangriffen ein. Nach und nach gelang es ihnen, den IS zu vernichten. Aber das war ein Erfolg, den es nicht gratis gab. Die Zahl der zivilen Opfer war hoch; die Schätzungen schwanken zwischen 9.000 und 11.000 Zivilisten, die gestorben sind.“
Operationen mit US-Handschrift
Die Art der israelischen Einsätze zeigt den Einfluss Washingtons, findet Večernji list:
„Die anfänglichen Pläne der israelischen Invasion sorgten für Bedenken bei den US-Beamten, die kritisierten, es gebe keine klaren und erreichbaren militärischen Ziele sowie Bereitschaft und Willen der israelischen Armee, solch eine Operation zu starten. Die Einfälle der israelischen Armee in Gaza werden nun als kleiner und konzentrierter beschrieben als das, was die israelische Armee anfänglich [US-Verteidigungsminister Lloyd] Austin und anderen hohen Militärs präsentiert haben soll. Die USA haben Israel eine neue Art von Angriffen in Gaza vorgeschlagen, präzise Operationen gegen Hamas-Ziele mit Spezialkräften, statt einer allumfassenden Invasion.“
Die Geiseln nicht vergessen
Die Forderung der UN nach einer Feuerpause hält The Irish Times für völlig berechtigt:
„Diese Forderung ist umso notwendiger, als Israel am Wochenende einen Bodenkampf gestartet hat. Intensive internationale Diplomatie, die Israel das Recht auf Selbstverteidigung gegen den Hamas-Terrorismus einräumt, kann nicht über die Dringlichkeit dieser Forderung hinwegtäuschen. Ein Waffenstillstand würde die Verhandlungen über die Freilassung der von Hamas entführten israelischen Geiseln erleichtern. Das könnte politischen Spielraum für eine längerfristige Feuerpause und die rechtzeitige Vorbereitung einer internationalen Konferenz zur israelisch-palästinensischen Frage schaffen.“
Flächenbrand möglich
Zwei Szenarien könnten zu einer Ausweitung des Konflikts mit einer Einmischung Irans führen, analysiert La Repubblica:
„Erstens, die Eskalation des Konflikts im Gazastreifen mit Massakern und/oder der Vertreibung eines großen Teils der Bevölkerung in das Gebiet des Sinais. ... An diesem Punkt könnte die Hisbollah kaum noch tatenlos zusehen. Israel würde in den Libanon einmarschieren und Teheran wäre gezwungen, sich zwischen der Vernichtung seiner unmittelbaren Akteure und einem Eingreifen zu deren Schutz zu entscheiden. Washington könnte eingreifen, um Israel zu retten. Zweitens könnten iranische Angriffe auf die amerikanische Infrastruktur, insbesondere im Irak und in Syrien, zunehmen. Biden wäre vielleicht gezwungen, der Welt zu zeigen, dass die USA weiterhin die Nummer eins sind und bereit zu kämpfen, wenn sie angegriffen werden.“