EU-Beitrittsgespräche: Weg für Ukraine jetzt frei?
Dass der EU-Gipfel in Brüssel den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine geebnet hat, beschäftigt weiterhin die europäische Presse. Sorgen bereitet Kommentatoren vor allem, dass die nötige Einstimmigkeit nur erzielt wurde, weil Ungarns Premier Viktor Orbán im entscheidenden Moment den Saal verließ. Aber auch der Blick nach vorne wirft Fragen auf.
Veto-Gefahr durch Orbán bleibt
Die Ukraine kommt nicht umhin, den Dialog mit Budapest zu suchen, meint Ukrajinska Prawda:
„Ungarn ist weiterhin in der Lage, [der Ukraine] nahezu täglich Steine in den Weg zu legen. Denn der Beitrittsprozess ist so gestaltet, dass selbst technische Zwischenlösungen, ganz zu schweigen von so großen Beschlüssen wie Entscheidungen der Regierungskonferenzen zum Verhandlungsrahmen, einstimmig gebilligt werden müssen. Bei Orbán hat man bereits ausgerechnet, dass die Ukraine bei Bedarf noch 75 Mal aufgehalten werden könnte. ... Und Kyjiw sollte sich dessen bewusst sein. In der Praxis bedeutet das: So widerlich und beleidigend es auch sein mag, werden wir mit Orbán verhandeln müssen.“
Inakzeptables Verhalten
Dass Ungarns Premier im Moment der Abstimmung eine Kaffeepause machte, kritisiert hvg:
„Um die Bedeutung dieses Ereignisses zu verdeutlichen: Diesen Raum verlässt der Vertreter eines Mitgliedstaates nur, wenn zum Beispiel Unruhen im eigenen Land ausbrechen. Oder falls der Verdacht besteht, dass er mit Covid infiziert sein könnte. Es ist nicht üblich, den Saal zu verlassen, wenn jemand in einer ausdrücklich wichtigen Frage seine Stimme erheben kann, und schon gar nicht, wenn diese Stimme der aller anderen widerspricht. Dennoch ist Viktor Orbán weggelaufen.“
Feilschen wie auf dem Basar
Auch Radio Kommersant FM findet Orbáns Trick unwürdig:
„Das sieht unschön aus. Sehr geehrte Herrschaften Staatschefs des freien Europas, wir sind nicht auf einem Basar zum Herumfeilschen. Sie repräsentieren die westliche Welt - und deren Werte - und sollten für alle anderen ein Vorbild sein. ... So geht das nicht, so wird nicht über das Schicksal der Welt entschieden. Dagegen muss etwas unternommen werden. Nur ist nicht klar, was. Aber seltsam: Aus irgendeinem Grund drängen dennoch andere Länder danach, dieser Organisation beizutreten, da steht die reinste Schlange an Beitrittswilligen. ... Und - warum wohl? - niemand bewirbt sich um Aufnahme bei der GUS.“
Gespräche allein machen nicht den Unterschied
Die Neue Zürcher Zeitung warnt, dass die Ukraine ein ähnliches Schicksal erleiden könnte wie viele Balkanstaaten:
„Was die Bedeutung der Einladung an die Ukraine ... relativiert ... ist der Beitrittsprozess. Das zeigt der Blick auf den westlichen Balkan. Von den acht Ländern, denen vor zwanzig Jahren der Beitritt in Aussicht gestellt wurde, sind heute nur Slowenien (2004) und Kroatien (2013) Mitglieder. Bei den übrigen herrscht Stillstand, oder sie sind gar vom Pfad abgekommen. Das liegt zu einem Teil an den Ländern selber, die nicht bereit sind, die von der EU geforderten Reformen durchzuführen. Es liegt aber auch an der Union, die sehr bald die Lust verlor, ärmere und schwierige Nachbarn aufzunehmen und sie auf dem Weg zur Mitgliedschaft zu unterstützen.“
EU-Entscheidung Gold wert
Jyllands-Posten lobt:
„Die Entscheidung der EU, dass die Ukraine zu Europa gehört und irgendwann auch in die europäische Familie zurückkehren muss, ist für die Ukrainer moralisch und politisch immer noch Gold wert. Je stärker die Ukraine in die Institutionen der regelbasierten Weltgemeinschaft eingebunden werden kann, desto stärker steht sie Russland gegenüber. Niemand ist derzeit erfreuter über die Probleme der Ukraine in Washington und Europa als Putin. ... Putin nährt sich von der Spaltung des Westens. Und viel zu viele im Westen tragen naiv zu seinem eiskalten Spiel bei. Es ist an der Zeit, dass der Westen seinen Verpflichtungen nachkommt.“
Bitte nicht überheben
Naftemporiki graut es bei der Vorstellung, wie die EU eine weitere Beitrittswelle verdauen würde:
„Stellen Sie sich vor, dass der Gemeinschaftsclub in Zukunft bis zu 36 Mitglieder mit mehr als 500 Millionen Einwohnern haben wird: Es wird ein noch heterogenerer 'Club' sein: wirtschaftlich, sozial und kulturell. Darüber hinaus könnten Risse innerhalb der EU sichtbar werden. Einstimmige Entscheidungen - ohnehin schon oft eine schwierige Sache - würden fast unmöglich. ... Der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit wären in Gefahr. Ein Beispiel für finanzielle Probleme: Allein die Ukraine hätte bei einem EU-Beitritt Anspruch auf 186 Milliarden Euro über sieben Jahre.“
Diesmal keine wohlfeilen Ausreden
Der politische Wert dieses Schritts ist enorm, lobt La Repubblica:
„Er markiert einen wichtigen Wendepunkt. Vor allem an der Front des Krieges zwischen Demokratien und Totalitarismen. In den letzten Monaten wurde viel über eine gewisse 'Müdigkeit' des Westens bei der Unterstützung der Ukraine gesprochen. ... Hätten die europäischen Staats- und Regierungschefs den nachlassenden Elan bei der Verteidigung der demokratischen Ordnung [mit den USA] geteilt, hätte ihnen das Veto, das Ungarns Orbán gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit der Ukraine eingelegt hatte, die perfekte Ausrede für einen Aufschub geboten, für den niemand die Verantwortung hätte übernehmen müssen.“
Europa kann stolz auf sich sein
Putins Rechnung ging auch diesmal nicht auf, freut sich LB.ua:
„Es ist ein Moment des Stolzes für ganz Europa, das Putin lange Zeit für völlig zahnlos hielt. Er dachte, wenn die USA ihre Hilfen verzögern, dann würde auch die EU Russlands Druck nachgeben und die Ukraine im Stich lassen. ... Er hat sich verrechnet – übrigens wie immer. Putins Kalkül war recht einfach: Er sah in den Regierungschefs von Ungarn und der Slowakei, Orbán und Fico, die Akteure, die sämtliche europäischen Integrationsperspektiven für die Ukraine ausbremsen würden. Und wie ist nun das Ergebnis des heutigen Gipfels?“
So holt man sich den Krieg ins Haus
Eric Bonse ist auf seinem Blog Lost in EUrope nicht überzeugt:
„Für den Start von Beitrittsverhandlungen sprechen eigentlich nur geopolitische Gründe. Man will der Ukraine in der verfahrenen militärischen Lage Hoffnung machen und sie politisch und wirtschaftlich dem Angriff aus Russland entreißen. Dagegen sprechen jedoch gewichtige Argumente. Das erste lautet, dass man nicht mit einem Land über den Beitritt verhandelt, das sich im Krieg befindet. Dies gilt für die EU ebenso wie für die Nato – wenn nicht sogar noch mehr. Denn die EU will eine Friedensunion sein, die Stabilität und Wohlstand über den europäischen Kontinent bringt. Mit der Ukraine holt sie sich jedoch den Krieg ins Haus, und unsichere Grenzen und besetzte Gebiete noch dazu.“
Jeder bekommt, was er braucht
Die regierungsnahe Mandiner führt die Freigabe von EU-Mitteln für Ungarn auf Orbáns geschickte Veto-Drohung zurück:
„Ungarn bekommt die Mittel, die ihm zustehen, die Garantie der Rechte der ungarischen [Minderheit] in Transkarpatien und die denkbar größte Distanz zu einer Entscheidung, die es nicht mittragen will. Die Führung der großen EU-Mitgliedsstaaten bekommt die zufrieden stellende Gewissheit, dass sie die Union in ihren heikelsten Momenten doch immer noch souverän anführt. Und die Ukraine bekommt eine kleine Vitaminpille der Motivation, die sie in der aktuellen Frontsituation wohl dringend nötig hat.“
Ohne Washington wird es nicht gehen
Die Unterstützung aus Brüssel reicht der Ukraine nicht, erinnert Denník Postoj:
„Selbst gute Nachrichten aus der EU können die Ukraine nicht für den Mangel an amerikanischer Militärhilfe entschädigen. Diese Tage sprechen ukrainische Militärkommandeure offen darüber, dass sie die russischen Truppen, die über größere Munitionsreserven verfügen, nicht zurückhalten können, wenn die amerikanische Militärhilfe ausbleibt. Sollte diese Last allein auf den Schultern europäischer Länder verbleiben, könnten sie im Kreml die Champagnerflaschen öffnen.“
Querulanten wie Orbán den Riegel vorschieben
Im Hinblick auf die Veto-Spiele aus Ungarn muss Brüssel dringend die Zügel anziehen, fordert Verslo žinios:
„Die europäischen Juristen müssen aktiv werden. Es gäbe da eine Vielzahl von Lösungen, die man finden könnte. Vielleicht könnte man einem Land, das die gemeinsamen Interessen der EU und die europäische Sicherheit untergräbt, jegliche Zahlungen aus der gemeinsamen Kasse verweigern, seine Stimm- oder Vetorechte aussetzen, es von der Teilnahme an gemeinsamen Prozessen ausschließen und sogar die extreme Maßnahme der Aussetzung seiner Mitgliedschaft ergreifen. Übrigens, ähnliche Wolken schweben auch über der Nato. ... Wenn Artikel 5 aktiviert werden müsste, würden wir wohl nicht nur Orbáns 'Argumente', sondern auch die der Türkei hören.“