Moskau: Was bedeutet das tödliche Attentat?
In der Nähe von Moskau ist am Freitag ein Terroranschlag verübt worden, bei dem fast 140 Menschen getötet wurden. Mehrere Attentäter drangen in das Veranstaltungszentrum Crocus City Hall ein, schossen auf Konzertbesucher und legten Brände. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Attentat, elf Verdächtige wurden festgenommen. Präsident Putin sprach von einer angeblich ukrainischen Spur. Kyjiw dementierte.
Putins Regime erweist sich als schwach
Polityka analysiert:
„Der Angriff auf das Zentrum des russischen Imperiums verdeutlicht eine für viele Russen düstere Wahrheit in Zeiten des Krieges mit der Ukraine: Der Staat ist schwach und unfähig, seine Bürger zu schützen. ... Der Krieg, der Russland eigentlich stärker machen sollte, hat es auf Abwege geführt. An den Rändern des sich militarisierenden Imperiums agieren Terroristen und Rebellen, die sich als schlagkräftiger erweisen als der Sicherheitsapparat des Kremls. Putin hat bisher keine wirklichen Lösungen und kein Handlungskonzept, mit dem er die Russen davon überzeugen könnte, dass er die Lage im Griff hat. Und das ist sehr, sehr gut so.“
Der IS spielt sein eigenes brutales Spiel
Für den Tagesspiegel zeigt der Anschlag, dass die Gefahr islamistischer Anschläge nicht gebannt ist:
„Terrororganisationen mögen ihre Schlagkraft und ihre Ordnung auch dank des internationalen Kampfes gegen den Terror etwas verloren haben, doch sie sind weiter zu grausamen Attacken fähig. ... Der IS kehrt mit der Attacke zurück auf die internationale Bühne – als ernstzunehmender Player. Er fügt der Komplexität der neuen multilateralen Lagerbildung aus China/Russland einerseits und dem Westen, der aber auch in vielen Punkten nicht einig ist, anderseits, eine weitere Dimension hinzu. Denn der IS passt nicht in dieses Schema, er steht quer zu den Lagern. Er spielt sein eigenes, brutales, menschenverachtendes Spiel.“
Penibles Timing
Jutarnji list schreibt:
„Der blutige Terrorangriff in Moskau geschah zu einem Zeitpunkt, an dem sich der russische Präsident Wladimir Putin sicher fühlte: nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen und der Übernahme der Initiative auf dem ukrainischen Schlachtfeld. Zufall gibt es in solchen Fällen nicht, es handelt sich um einen sehr gut organisierten Angriff, der an das Massaker im Pariser Konzertsaal Bataclan 2015 erinnert. Der Moment des Massakers war zweifellos so geplant, dass er die russische Staatsstruktur erschüttern und gleichzeitig ein Gefühl von Angst und Unsicherheit im Herzen Russlands, Moskau, schürt, von wo es sich in konzentrischen Kreisen im ganzen Land ausbreitet.“
Eine schicksalshafte Entscheidung
Putin hat die Wahl, beobachtet Le Figaro:
„In diesem Phantasma bleiben oder die komplexere Realität akzeptieren, in der Moskau im gleichen Boot wie Paris oder New York sitzt? Seine Wahl wird sich auf den weiteren Verlauf des Krieges auswirken, denn man kann sich vorstellen, welches Ausmaß an Vergeltung eine offizielle Anklage gegen die Ukraine rechtfertigen könnte, selbst wenn sie auf nichts beruht. Niemand hätte ein geringeres Interesse daran, einen islamistischen Anschlag in Auftrag zu geben, als ein Land, das nach Europa strebt und für sein Überleben auf den Westen angewiesen ist. Aber wenn Putin Russland immer weiter in eine Welt hineinzieht, die es nicht gibt, sind wir alle einen Schritt näher an einem Flächenbrand, mit einem Gegner, der nicht mehr zur Vernunft zu bringen ist.“
Unbedingt Kyjiw die Schuld zuschieben
Nowaja Gaseta Ewropa kritisiert Moskaus Bemühen, den Terrorakt mit dem Krieg gegen die Ukraine zu verknüpfen:
„Die russische Propaganda sucht händeringend nach einem Weg, den Moskauer Terroranschlag mit der Ukraine in Verbindung zu bringen, weil sie ja darauf beharrt, dass dort 'die Feinde Russlands' leben. ... Selbst wenn sie keinen einzigen Beweis dafür finden – außer vielleicht einem unter Folter gemachten Geständnis. ... Man kann nicht über zwei Jahre Krieg gegen die Ukraine führen, massenhaft Menschen töten, Städte dem Erdboden gleichmachen und dann offiziell zugeben, dass man die Feinde hätte woanders suchen müssen. Nun dürfte wohl der Versuch folgen, eine Anklage gegen 'islamistische Fundamentalisten, die ihre Aufträge von Strippenziehern in Kyjiw erhielten', zu erstellen.“
Warnung der USA ohne Wirkung
Die SonntagsZeitung befürchtet, dass der russische Präsident auf die Gewalt von Moskau mit noch mehr Gewalt reagieren wird:
„Der einzige Hoffnungsschimmer, den es in dieser düsteren Lage gibt, ist, dass es doch ausgerechnet die Amerikaner waren, die Moskau vor Terroranschlägen warnten. Und dies, obwohl die Beziehungen zwischen Russland und den USA, zwischen Putin und Joe Biden, so schlecht sind wie kaum je zuvor. Vielleicht erinnert sich Putin ja an die Zeit Anfang des Jahrhunderts, als Russland und die USA gemeinsam und mit beachtlichem Erfolg versuchten, die Welt sicherer zu machen. Allein, die Hoffnung ist klein, und es ist zu befürchten, dass Putin seine Wut an den Ukrainern auslassen wird, egal, ob sie nun hinter den Attentaten stecken oder nicht.“
Geheimdienst-Kanäle funktionieren nicht mehr
Detailliert hatten die USA Moskau vor dem Terroranschlag gewarnt – und wurden ignoriert. Adevărul ist beunruhigt:
„Die Intoleranz zwischen den globalen Gegnern ist derzeit so groß, dass das gegenseitige Misstrauen exponentiell zugenommen hat. ... Niemand glaubt mehr den Warnungen der Geheimdienste der gegnerischen Mächte, man bezeichnet sie vielmehr als 'Provokationen', wie es die Russen taten, als die Amerikaner sie vor dschihadistischen Anschlägen in Moskau warnten. Dies ist äußerst bedenklich, denn damit wird die jahrelange politische Zusammenarbeit zunichte gemacht, die – wenn auch in einer diskreten Welt, zu der die Öffentlichkeit keinen Zugang hatte – einige sehr wirksame Frühwarn- und direkte Notfall-Kooperationsmechanismen abgestimmt hatte.“
Putins Polizeistaat schaut in die falsche Richtung
Der Moskauer Sicherheitsapparat trägt Scheuklappen, meint Exilpolitiker Maxim Katz in Echo:
„Es geschah nur Stunden, nachdem die russische Finanzaufsicht die 'internationale LGBT-Bewegung und ihre strukturellen Untergliederungen' auf die Liste der Terroristen und Extremisten gesetzt hatte. Der Staat hat deutlich gezeigt, wen er überwacht, für wen er Ressourcen aufwendet und wen er ignoriert, da er echte Terroristen direkt vor seiner Nase nicht bemerkt. Das führt dazu, dass bewaffnete Killer in der Hauptstadt Menschen erschießen, aber schnelle Eingreiftruppen erst eintreffen, wenn alles vorbei ist. ... Das passiert in einem Land, in dem die Sicherheit des Staates zur Religion erhoben wurde und wo das Regime ein dichtes Netz der Überwachung der Bürger organisiert hat.“