Protest und Verhaftungen: Was ist an den US-Unis los?
Wut über die Auswirkungen des Gaza-Krieges hat zur Eskalation der Proteste an mehreren US-amerikanischen Universitäten geführt, bei denen es auch zu antisemitischen Vorfällen kam. An der renommierten New Yorker Columbia University nahm die Polizei auf dem Campus mehr als hundert Personen fest. Der Lehrbetrieb findet dort vorerst nur online statt. Europas Presse schaut auf die Hintergründe und zieht historische Vergleiche.
Postkoloniale Perspektive treibt seltsame Blüten
Der Filmregisseur Olexandr Rodnjanskyj wundert sich in einem auf Echo übernommenen Telegram-Post über den Scheuklappenblick radikaler Demonstranten:
„Ich schreibe über jene, die 'I love Hamas' skandieren und jüdische Studierende attackieren. ... Unter ihnen sind viele LGBTQ+, Transgender, nicht-binäre Menschen, eifrige Verteidiger der Umwelt gegen die Menschen – all diese Vertreter eines neuen 'Glaubens' eilen gerüstet mit dekolonialistischer Wut zur Verteidigung von Terrororganisationen, Banditen-Enklaven und ganzen Staaten, in denen sie kaum ein paar Minuten überleben würden. ... Man würde sie dort umbringen. So wie man es dort mit faktisch allen Gegnern, religiösen Frevlern und schlichtweg Andersgläubigen macht.“
Null Interesse an Tiefgang
Corriere della Sera stört sich an der ideologischen Borniertheit der Protestierenden:
„Die Generation Gaza hat ein manichäisches Weltbild mit unerschütterlichen ideologischen Gewissheiten. Die Reichen (Einzelpersonen oder Nationen) haben immer Unrecht, die Armen immer Recht. Die Reichen müssen zwangsläufig die Armen unterdrückt und ausgebeutet haben. Die Menschheit ist geteilt in einen imperialistischen Westen und alle anderen: Opfer, die Wiedergutmachung brauchen. Der Fortschritt, die westliche Hochstapelei, ist nur böse und zerstörerisch. ... Sie wissen wenig oder gar nichts über den Nahostkonflikt, seine unendliche Komplexität, die weitreichenden Verantwortlichkeiten auf der einen und der anderen Seite, die Rolle mächtiger Regisseure wie dem Iran, und sie sind auch nicht daran interessiert, in die Tiefe zu gehen.“
Neue 68er-Bewegung ist möglich
Die US-Regierung unterschätzt die Demonstrationen, findet T24:
„Es ist ein großer Fehler, diese Art von Studentenbewegungen zu belächeln. Denn diese Proteste können schließlich mit anderen Problemen verschmelzen und zu einer anderen Art von Bruch in der Gesellschaft führen. Wir sollten die 68er-Bewegung nicht vergessen. Diese Proteste, die mit Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam begannen, breiteten sich weltweit aus und wurden zu einem Kampf für Rechte und Freiheit. In einigen Ländern beschränkte er sich auf die Studentenbewegung, in anderen wurde er mit der Arbeiterbewegung verbunden und ging als weltweiter Aufstand für Rechte und Freiheit in die Geschichte ein. Werden die Proteste in den USA ebenfalls für so einen Sprung sorgen? Wir werden sehen...“
Joe Biden kann nur verlieren
Der Präsident steckt wegen der Proteste in der Zwickmühle, analysiert Jutarnji list:
„Es ist ein Problem, das man nicht ignorieren, damit aber auch keine politischen Punkte gewinnen kann. ... Von Biden wird im Moment erwartet, dass er – rhetorisch gesehen – erfolgreich auf dem schmalen Pfad zwischen zwei demografischen Gruppen wandelt, die bisher der Demokratischen Partei zugewandt waren, und dies während Umfragen zeigen, dass sie wegen der Wirtschaft immer schlechter unter Afroamerikanern und Hispanics rangiert. Der US-Präsident muss 'hören, was ihm die Jugend sagen möchte' bezüglich der Politik seiner Regierung in Gaza und gleichzeitig die Juden in den USA schützen, die sich (legitim) immer unsicherer in der derzeitigen Stimmung in den USA fühlen.“
Alle Meinungen hören
Das Webportal In verteidigt das Recht auf freie Meinungsäußerung:
„Zweifellos ist der Konflikt im Nahen Osten komplex und alle Seiten tragen Verantwortung. Das heißt aber nicht, dass wir nicht diskutieren dürfen. ... Und diskutieren bedeutet, unterschiedliche Meinungen anzuhören, Veranstaltungen durchzuführen, Demonstrationen zu organisieren. Genauso wie wir also zu Recht in Aufruhr geraten würden, falls jemand vorschlagen würde, eine pro-israelische Veranstaltung zu verbieten, oder wenn diejenigen nicht sprechen dürfen, die Israels Recht auf Selbstverteidigung unterstützen, müssen wir uns jedem Versuch widersetzen, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die sich hinter die Palästinenser stellen.“
Intoleranz gibt sich progressiv
L'Opinion zieht Vergleiche zu den 1960er und 1930 Jahren:
„Die aktuellen Szenen sind das genaue Gegenteil von denen der 1960er Jahre, als schwarze Schüler unter den Rufen von Rassisten nur unter Polizeischutz in ihre Klassenräume gelangten. Sechzig Jahre später hat die Intoleranz die Seiten gewechselt und ist nun, wenn man es so nennen will, 'progressiv'. Wissen diese der Geschichte unkundigen Schreihälse überhaupt, dass anderen jüdischen Studenten im Europa der 1930er Jahre das Studium verboten wurde? Wir hören schon die hasserfüllten Antworten auf unsere Empörung: 'Und die Kinder in Gaza, stört euch das nicht?'... Aber warum sollte das Leid der einen nur dann anerkannt werden, wenn das Leid der anderen verkannt wird?“
Radikalisierung und Wohlstand
Auch Corriere della Sera wagt einen historischen Vergleich:
„1968 gab es den Vietnamkrieg, heute gibt es Gaza. … Die Proteste radikalisieren sich. .... Die Empörung über die anhaltende humanitäre Tragödie im Gazastreifen geht oft mit einer offenen Unterstützung der Hamas-Gewalt einher. ... Es gibt noch eine Parallele: Soziologische Studien über den großen Jugendaufstand haben gezeigt, dass die 1968er-Generation die erste war, die im Wohlstand aufgewachsen war. Die Explosion der Proteste war das Ergebnis des wirtschaftlichen Aufschwungs, der auch neue Bedürfnisse, Kaufkraft, Konsumverhalten und eine in der Geschichte beispiellose jugendliche Freiheit geschaffen hatte. Heute profitiert die Generation Z, als die sich die zwischen 1997 und 2012 Geborenen selbst bezeichnen, ebenfalls von einem noch nie dagewesenen Wohlstand.“
Biden im Dilemma
Für Joe Biden könnten die Proteste gefährlich werden, meint Zeit Online:
„Die Proteste an den Universitäten sind der vorläufige Höhepunkt einer offensichtlichen Unzufriedenheit mit der Nahostpolitik des Präsidenten, die sich seit Monaten weiter aufgebaut hat. Junge, linke Wählerinnen und Wähler sind ohnehin frustriert darüber, dass der 81-jährige Biden noch einmal Präsident werden will. ... Auf der anderen Seite beobachten auch jüdische Bürgerinnen und Bürger - traditionell eine demokratische Wählergruppe - genau, wie Biden versucht, die Krise außen- wie innenpolitisch zu navigieren. Beide Wählergruppen darf Biden nicht verlieren, will er am 5. November gegen Donald Trump gewinnen.“
Wenn nicht hier, wo dann?
Politiken lobt, dass Studierende sich engagieren:
„Universitäten sind Wissens- und Lernzentren, in denen oft die künftigen Denker und Führungskräfte der Welt geboren werden. Wenn ein so tragischer und kontroverser Krieg wie der Gaza-Krieg nicht an den Universitäten diskutiert werden sollte, was dann? ... Gleichzeitig ist es natürlich völlig unhaltbar, dass sich jüdische Studenten unter anderem in Yale durch die Proteste bedroht und eingeschüchtert fühlten. Es muss Platz für alle sein und im Idealfall eine Debatte geben, die alle weiser macht und die Welt verändert.“