Frankreich: Bringt die Wahl Klarheit?
Am Sonntag startet die französische Parlamentswahl mit dem ersten Wahlgang. Präsident Macron hatte die Nationalversammlung nach der EU-Wahl aufgelöst, bei der seine Partei schwere Verluste und der rechtsnationale Rassemblement National (RN) starke Gewinne eingefahren hatte. Links der Mitte tritt das Wahlbündnis Nouveau Front populaire (NFP) an. Europas Presse schaut genau hin, was da in Frankreich geschieht.
Gefährliche Polarisierung
Zwei konkurrierende populistische Blöcke erkennt Corriere della Sera:
„Die linke NFP, ein eher heterogener Block (der sogar pro-russische und pro-ukrainische Kräfte vereint) und das Rassemblement National, gefestigt durch souveränistische und fremdenfeindliche Ideologie. Beide gewinnen auf Kosten der Mitte an Unterstützung, ohne den Sinn eines demokratischen Wechsels zwischen rechts und links erfüllen zu können. Im Gegenteil, es besteht die Gefahr einer gewaltsamen Opposition auf der Straße. Beide sind entschlossen, die Bevölkerung mit austauschbaren Versprechungen auf sozialer und steuerlicher Ebene zu verführen: etwa die Abschaffung von Macrons Rentenreform und Erhöhungen bei der sozialen Sicherung. Alles Wunschträume oder Programme, die auf eine Erhöhung des bereits enormen Staatsdefizits hinauslaufen.“
Macron steht sein Narzissmus im Weg
Für den Fall eines Wahlsieges von RN oder NFP hat Emmanuel Macron vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Für Le-Monde-Chefredakteur Jérôme Fenoglio zeugt das nicht zum ersten Mal von einer destruktiven Haltung des Präsidenten:
„Verblüffende Worte von einem Staatschef, welche lediglich die Art und Weise fortsetzen, mit der er immer weiter Spannungen erzeugt hat. Den in Trümmern liegenden politischen Raum Frankreichs von der Mitte aus wieder aufzubauen, hätte Demut und Aufmerksamkeit für die anderen erfordert. ... Doch Emmanuel Macron verfügt offenbar über keine dieser Tugenden und hat sein Umfeld nie darauf ausgerichtet, seine Schwächen zu kompensieren. Sein Narzissmus hat ihn schließlich einer Ablehnung ausgesetzt, die noch größer ist als die, die ihn an die Macht gebracht hatte, und droht den gesamten Mitte-Block einzureißen.“
Drang nach Veränderung könnte das Land lähmen
Financial Times analysiert:
„Die beiden wahrscheinlichsten Szenarien für den Ausgang der bevorstehenden Wahlen sind eine absolute Mehrheit für die extreme Rechte, die Macron dazu zwingen würde, einen Premier aus den Reihen der RN zu ernennen (was, wie er hofft, die Inkompetenz der Partei offenbaren würde), oder, was wahrscheinlicher ist, eine Situation, in der weder die Extreme noch die Mitte eine Mehrheit in der Nationalversammlung haben. ... Im zweiten Szenario wäre es schwierig, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Eine neue Regierung, die unter diesen Umständen gebildet würde, könnte nicht viel bewegen. ... Ironischerweise könnte der Drang der Wähler nach Veränderung eine Lähmung mit sich bringen.“
Referenden als Regierungsmethode
Volksbefragungen zu wichtigen politischen Fragen könnten den Weg aus der Unregierbarkeit führen, schlägt Historiker Raphaël Doan in Le Figaro vor:
„Eine nicht regierungsfähige Nationalversammlung zusammen mit einer Technokratenregierung und einem Präsidenten kurz vor Ende seines Mandats wäre eine gute Gelegenheit, um das Referendum erneut für eine echte Befragung zum Mehrheitswillen der Franzosen bezüglich einer Reihe von Herausforderungen zu nutzen. … Natürlich kann es sein, dass bei der kommenden Parlamentswahl eine absolute Mehrheit zustande kommt. Ist das jedoch nicht der Fall, täten der Staatspräsident und die neuen Abgeordneten gut daran, sich offen dem Referendum zuzuwenden; nicht als x-tes Mittel, um die Legitimität des Staatschefs zu testen, sondern als Regierungsmethode.“
Wähler wachgerüttelt
Ukrajinska Prawda beobachtet großes Wahlinteresse:
„Es scheint, dass weder die Sommerhitze noch der Fußball noch die bevorstehenden Olympischen Spiele in Paris das Interesse der Wähler beeinträchtigen. Ein Rekord, der bei dieser Wahl bereits aufgestellt wurde: In den letzten Tagen wurden 2,1 Millionen Genehmigungen für die Stimmabgabe über Bevollmächtigte ausgestellt. Das ist mehr als fünfmal so viel wie bei den vorigen Wahlen. Präsident Emmanuel Macron hat also einen Teil seines Plans verwirklicht – er hat die Wähler 'wachgerüttelt'. Aber wird das auch genügen, um das Hauptziel zu erreichen, nämlich zu verhindern, dass die Ultrarechten vom Rassemblement National an die Macht kommen?“
In drei Jahren wird es wirklich ernst
Das entscheidende Jahr für den RN dürfte eher 2027 sein, glaubt Göteborgs-Posten:
„Die Parlamentswahl wird wohl in eine Links- oder Mitte-Links-Regierung in irgendeiner Form münden, auch wenn der RN seine bisher beste Wahl hinlegt. ... Der RN bekäme eine starke Oppositionsrolle im Parlament, während Macron geschwächt wird und eine eventuelle Links-Regierung es schwer haben dürfte, das Land gemeinsam mit dem Präsidenten zu führen. Möglicherweise ist es genau das, worauf der nur 28 Jahre alte Jordan Bardella und seine Mentorin Marine Le Pen hoffen. Sie hatten die ganze Zeit die Präsidentschaftswahl 2027 im Blick. Ein neuer Präsident kann dann, genau wie Macron es getan hat, das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen.“
Macron hat der Rechten die Tore zur Macht geöffnet
Interia glaubt nicht, dass Macrons Plan aufgeht:
„Nun, der Präsident geht davon aus, dass er die Misere rechtsextremer Regierungen entlarven wird, sollte es zu einer solchen kommen. Woraufhin seine Landsleute 2027 dank ihm Le Pen nicht zur Präsidentin wählen. Nur ... dass er es ist, der jetzt die Verantwortung dafür trägt, sollten sie an die Macht kommen. Wie kann man die Tore einer Festung weit öffnen und gleichzeitig mit ernster Miene vor den anrückenden Feinden warnen? Das alles klingt nach einer völligen Abkopplung von der Realität.“
Es gibt kein Europa à la carte
Die EU-kritischen Versprechen des RN sind ohne Fundament, betont Le Soir:
„Kontrolle der Migration, Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie, Reduzierung des französischen Beitrags zum Gemeinschaftshaushalt, Vorrang der Verfassung vor den europäischen Normen et cetera. ... Es bleibt noch eine Woche, um diese ebenso verlogene wie schädliche Wahlkampfrhetorik zu zerlegen. Ein Europa 'à la carte' kann es nicht geben, die Solidarität zwischen den Staaten ist nicht optional, die Verteidigung der Grundwerte kann nicht verhandelt werden. ... Und deshalb nein, Jordan Bardella wird, wenn er [als Premier] in Matignon einzieht, die Beteiligung Frankreichs an den europäischen Finanzen weder einseitig reduzieren können noch sich von seinen Verpflichtungen zu Steuern, Migrationspolitik oder der Haushaltsführung befreien können.“
Unrealistisches Programm
Auch Les Echos kritisiert die Wahlversprechen Bardellas:
„Wir haben noch nie eine Partei gesehen, die den Posten des Premiers mit einem derart ungenauen Programm einfordert. Das wirklich einzig präzise Element sind die Kosten für die Senkung der Mehrwertsteuer auf Energiepreise, die unter anderem durch eine Senkung des Beitrags zum EU-Haushalt und eine Besteuerung des Seeverkehrs finanziert werden soll. ... Und der Rest? 'Ab Herbst' wird eine Befreiung von der Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge versprochen, sowie die Fortsetzung der Abschaffung der Produktionssteuern, die Aufhebung der Rentenreform, die Senkung der Erbschaftssteuer und so weiter. ... Jordan Bardella ist streng, wenn es um die ausufernde Verschuldung geht, aber wie würde er seine Maßnahmen finanzieren?“
Macrons Cameron-Moment
Eco schreibt:
„Manche sprechen von einem David-Cameron-Moment für Emmanuel Macron und vergleichen die Auswirkungen des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich mit den Folgen, die die vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich für das Land und die Europäische Union haben könnten. Nach dem 7. Juli, wenn die zweite Runde der Parlamentswahlen stattfindet, könnte ein Land, das für das europäische Projekt fundamental ist, eine der Säulen der Nato ist und einen Sitz im UN-Sicherheitsrat hat, eine Regierung haben, die von einer rechtsextremen, euroskeptischen Partei geführt wird, die mit Wladimir Putin sympathisiert.“
Schwere Zeiten für die EU
Über die Folgen einer Regierung des Rassemblement National für Europa macht sich Corriere del Ticino Gedanken:
„In erster Linie bedeutet sie das Ende der Fähigkeit des deutsch-französischen Tandems, die europäische Politik zu steuern. ... Zweitens wird Frankreich Druck auf Brüssel ausüben – um die Regeln für staatliche Defizite zu lockern, von denen auch andere Länder betroffen sind, aber auch um die französische Staatshoheit in verschiedenen Bereichen einzufordern, deren Zuständigkeit auf die Union übertragen wurde. Außerdem wird es einen starken Impuls für eine protektionistische Handelspolitik geben. ... Kurzum, eine Regierung Jordan Bardella wird versuchen, eine Wirtschaftspolitik durchzusetzen, die genau das Gegenteil von dem ist, was Brüssel bisher verfolgt hat.“