Was macht Ungarn aus der EU-Ratspräsidentschaft?
Ungarn hat seit 1. Juli den rotierenden EU-Ratsvorsitz. Die viel kritisierte Haltung der ungarischen Regierung gegenüber der EU-Entscheidungsfindung, insbesondere zum Krieg in der Ukraine, hatte im Vorfeld Zweifel an der Eignung des Landes für diese Aufgabe genährt. Europas Presse führt die Debatte weiter. Die Kommentare wurden veröffentlicht, bevor am Dienstagmorgen bekannt wurde, dass Premier Viktor Orbán zu einem Überraschungsbesuch nach Kyjiw eingetroffen war.
Als Staatsmann überraschen
Um den angestrebten Ruf als starker Politiker nicht infrage zu stellen, sollte Orbán jetzt staatsmännisch handeln, rät Witalij Portnykow in Radio Swoboda:
„Versuche, die Ratspräsidentschaft zur Durchsetzung eigener egoistischer Ziele auszunutzen, schaden in der Regel dem eigenen Ruf und zeugen von Schwäche und Rachsucht, statt den Eindruck einer starken Führung zu vermitteln. ... An Orbáns Stelle würde ich also – zumindest für sechs Monate – meine Beschwerden, Bedingungen und sogar Putin vergessen. Und ich würde Kyjiw bereits in den ersten Tagen der ungarischen EU-Präsidentschaft besuchen. Das wäre ein würdiger, ausgewogener und logischer Schritt von Orbán, der zeigen würde, dass Ungarn nicht nur den Vorsitz in der EU führt, sondern auch die Werte Europas teilt.“
Nichts Konstruktives
Népszava befürchtet eher verstörende Signale aus Budapest:
„Im Schatten der ständigen russischen Bedrohung, der chinesischen Bestrebung nach wirtschaftlicher Hegemonie, einer US-Präsidentschaftswahl mit ungewissem Ausgang und der sich immer verstärkenden populistischen Rechten wäre eine konstruktive EU-Politik besonders wichtig. Doch man kann sich so etwas nicht erhoffen von der ungarischen Regierung, die die rotierende EU-Ratspräsidentschaft eher dazu nutzen könnte, chinesische Wirtschaftsinteressen durchzusetzen und die Trump demonstrativ die Daumen drückt, der der europäischen Wirtschaft schweren Schaden zufügen könnte.“
Budapest muss ausnahmsweise für Verständigung sorgen
Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, findet die Kleine Zeitung:
„Genau genommen erweist sich der ungarische Vorsitz fast schon als Glücksfall. Denn das Vorsitzland ist angehalten, sich als 'ehrlicher Makler' selbst zurückzunehmen und für Ausgewogenheit zu sorgen. Gleichzeitig ist in Brüssel zu hören, dass die Suche nach Mehrheiten und gemeinsam tragbaren Lösungen für die Ungarn ein Lehrstück sein könnte; sie sind auf die Verständigung mit anderen Ländern angewiesen. Das passt nicht zum ungarischen Blockade-Konzept. Ob diese Erfahrung für die Zukunft am Abdriften des Landes etwas ändert, ist aber fraglich.“
Ein Bild im Arbeitszimmer alarmiert
Die taz weist auf Orbáns destruktive Außenpolitik hin:
„Er unterstützt die aggressiven Nationalisten in der Region, vor allem aber in Serbien, und finanziert sogar Milorad Dodik, der einen Teil Bosniens abspalten will. ... Der Ministerpräsident Ungarns hat in seinem Arbeitszimmer die Karte Großungarns hängen, mit den Grenzen der Habsburgerzeit. Putins Traum, das zaristische Russland wiederherzustellen, könnte als Anregung auch für Orbán und seine Partei dienen. Die Weichen für eine Politikwende mit nationalistischen Vorzeichen innerhalb der EU werden schon gestellt – seine Reden zu Transsylvanien müssten nicht nur die Rumänen alarmieren. Er wird Europa klugerweise jetzt nicht völlig herausfordern. Doch Schritt für Schritt wird er versuchen, seine national fokussierte Sichtweise durchzusetzen.“
Jetzt zeigt sich, ob Europa wirklich gemeinsam kann
Die ungarische Ratspräsidentschaft wird ein klärender Moment für die EU, glaubt Le Soir:
„Der trumpartige Slogan der ungarischen Ratspräsidentschaft – Make Europe great again – sorgt für Unruhe? Dabei ist es (bislang) nur ein Slogan, der gewiss provoziert! Vor allem, da Inklusivität sich als Schlüsselbegriff des EU-Gipfels durchgesetzt hat, was vom Willen zeugt, alle mit ins Boot zu hieven (selbst Giorgia Meloni und… Viktor Orbán). ... Die kommenden sechs Monate werden zeigen, ob Viktor Orbán sich an die Regeln hält oder definitiv beweisen wird, dass er die europäische Maschinerie stören will. Wie auch immer die Antwort lautet, sie wird Klarheit schaffen in einem Moment, an dem der von Budapest geliebte Souveränismus auf EU- und nationaler Ebene weiter Fuß fasst.“
Nicht völlig hoffnungslos
Laut hvg muss die ungarische Regierung nun kompromissbereit sein:
„Es ist nicht zu übersehen, wie wichtig es für Fidesz ist, aus der Rolle des schwarzen Schafes herauszukommen. ... Eine gut geführte Ratspräsidentschaft würde das breite Publikum zwar nicht begeistern, könnte aber in EU-Kreisen das Bild von Ungarn als ständiges Hindernis abmildern. ... Es ist kaum Zufall, dass das Programm der Präsidentschaft wie folgt beginnt: 'Ungarn wird als anständiger Vermittler im Geiste der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Institutionen für Frieden, Sicherheit und Wohlstand eines wirklich starken Europas arbeiten.' Wie das Ganze endet, hängt vor allem davon ab, inwieweit die Regierung bereit ist, echte Kompromisse und sachliche Verhandlungen einzugehen.“