US-Wahl: Muss sich Biden zurückziehen?
Nach seinem schwachen Auftritt im TV-Duell mit Donald Trump und Versprechern beim Nato-Gipfel werden die Rufe nach einem Rückzug Joe Bidens aus dem US-Präsidentschaftsrennen lauter. In aktuellen Umfragen liegt der Amtsinhaber hinter Trump zurück. Biden bekräftigte mehrmals, er werde seine Kandidatur nicht aufgeben. Die Debatte in Europas Presse hält aber an.
Mit frischer Kandidatur in den Fokus der Medien
Umsatteln hätte auch Vorteile, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Noch können die Demokraten die Kehrtwende schaffen, um sich für den heissen Wahlkampf gegen Trump im Herbst zu rüsten. Eine frische Kandidatur stellt für die Demokraten in dieser dunklen Stunde der Parteigeschichte eine wirkliche Chance dar. Von jetzt an bis und mit dem Parteitag in Chicago könnten sie die amerikanische Aufmerksamkeitsökonomie beherrschen. Am Fernsehen und online würden engagierte und jüngere Demokraten debattieren, wer von ihnen Trump besiegen kann. Ein sogenannter wilder Parteitag würde zur spannendsten Show der Saison. Die Republikaner hingegen hätten mit ihrem altbekannten Kandidaten plötzlich Mühe, Schlagzeilen zu machen – die Währung, mit der Donald Trump am liebsten spielt.“
Schluss mit der Altersdiskriminierung
Dass Joe Biden nur an seinem Auftreten gemessen wird, empört Irish Independent:
„Warum verlangen wir von älteren Führungskräften, 'messerscharf' zu sein, insbesondere in Bezug auf ihre Präsentationsfähigkeiten? Eine verständnisvolle Gesellschaft erkennt an, dass Menschen unterschiedlich sprechen und sich unterschiedlich verhalten. Sicher, Biden stolpert manchmal über seine Gedanken oder klingt nicht immer allzu redegewandt, aber das sind Nebensächlichkeiten. Es ist in Ordnung, wenn ältere Menschen weniger flüssig sprechen als jüngere oder etwas länger nachdenken. Nur weil ein älterer Mensch etwas stockend oder langsamer spricht, heißt das nicht, dass diese Person nicht in der Lage ist, wichtige Entscheidungen zu treffen.“
Komplettversagen der politischen Führungskultur
Der Mangel an Alternativen macht für La Repubblica eine größere Dimension des Versagens sichtbar:
„Das Problem betrifft aktuell die traurig pathetische und erschöpfte Figur Joe Bidens. Dabei verdeutlicht es aber ganz allgemein den Charakter einer gut funktionierenden politischen Führung: Eine echte Führungspersönlichkeit sollte vom ersten Tag ihrer Amtszeit an daran arbeiten, ihre Nachfolge vorzubereiten, ihre Gruppe vom eigenen individuellen Handeln unabhängig zu machen und ein möglichst fruchtbares Erbe zu hinterlassen. In diesem Sinne stellt das offensichtliche Versagen einer Führungspersönlichkeit wie Biden nicht nur die betreffende Person und ihr vertrauteres Umfeld unter Anklage, sondern eine ganze Partei und eine ganze politische Kultur.“
Trump attackiert schon mal Harris
Die in den USA lebende Journalistin Karina Orlowa rechnet in einem von Echo übernommenen Telegram-Post mit einem Rückzieher Bidens:
„Der Abgang einer Lawine hat begonnen, die Bidens Kandidatur und/oder sogar seine Präsidentschaft mit sich reißt. ... Die Abtrünnigen im eigenen Lager werden in den kommenden Tagen wohl noch mehr werden, wobei Abgeordnete und Privatspender hinter vorgehaltener Hand signalisieren, dass sie Biden bis Ende der Woche öffentlich zum Rückzug auffordern könnten. Sie sagen, dass sie den gerade in Washington stattfindenden Nato-Gipfel nicht stören wollen und geben Biden Zeit, den Schritt selbst zu gehen. Die Republikaner und Trump werden schon panisch. Biden ist noch Präsident, aber Trump greift bereits Kamala Harris an.“
Stärker als gedacht
Bidens Rückhalt wird gerade wieder stärker, beobachtet De Volkskrant:
„Bidens Standhaftigkeit zeigt vielen Demokraten, dass der Präsident sich nicht einfach so aus dem Feld schlagen lässt. Demokraten, die ihn loswerden wollen, sehen ein, dass ihnen das nicht auf eine elegante Weise gelingen wird. Insidern zufolge ist die Debatte um Bidens Kandidatur vor allem deswegen umgeschlagen, weil ihn der sonst eher kritische Flügel der Demokratischen Partei nun wieder stützt. ... Möglicherweise sieht diese Gruppe Joe Biden als einen progressiveren Kandidaten als diejenigen, die als alternative Kandidaten im Gespräch sind, wie Vizepräsidentin Kamala Harris und die Gouverneure Gavin Newsom und Gretchen Whitmer.“
Besser spät als nie
Eigentlich bleibt Biden gar nichts anderes mehr übrig, erklärt La Stampa:
„Amerika feiert heute seinen Unabhängigkeitstag. Für seinen Präsidenten ist es ein vierter Juli der Konfrontation mit der Realität. Nicht mit der Herausforderung durch Donald Trump. ... Sondern mit seinen Anhängern, die nicht mehr glauben, dass er die Wahl gewinnen kann. Seine Freunde fordern ihn auf, zurückzutreten; seine Feinde hoffen, dass er im Rennen bleibt. Mehr noch als die ungünstigen Umfragen, die sich bis in fünf Monaten ändern können, zwingt ihn dieser Stimmungsumschwung, sich zu fragen, ob er den schmerzhaften Rückzug des Staatsmannes machen soll, wie Lyndon B. Johnson 1968, oder ob er im November den traurigen Epilog einer der besten US-Präsidentschaften der letzten Jahrzehnte in Kauf nehmen will.“
So würde Trump zum Garanten der Stabilität
Biden jetzt noch auszutauschen, wäre für die Demokraten ein enormes Risiko, schreibt Expresso:
„Eine Ablösung ist technisch möglich, aber sie hängt nicht nur von Bidens Willen ab, sondern wäre auch ein derartiger Bruch, dass sie kaum möglich wäre, ohne auch Brüche innerhalb der Demokraten zu provozieren, die die politische Legitimität der Wahl gefährden könnten. Das ist keine Kleinigkeit, wenn man gegen einen Kandidaten kämpft, der bereit ist, die Legitimität der Wahl an sich in Frage zu stellen. Und es würde eines erreichen: Trump in ein Symbol der Stabilität zu verwandeln. Die Frage ist, warum die Demokraten nicht früher erkannt haben, dass die Wiederwahl eines sehr schwachen 81-jährigen Mannes ein brutales Risiko darstellt. “
Michelle Obama könnte die Rettung sein
Angesichts der Debatte über Biden ist es an der Zeit, über eine neue Dynastie nachzudenken, meint Lidové noviny:
„Roosevelt, Bush, Clinton - solche Namen stehen bisher dafür. Jetzt, da ihr Kandidat Joe Biden in einer Präsidentschaftsdebatte eine desaströse Niederlage erlitten hat, suchen verzweifelte Demokraten nach einem idealen Ersatz. Kommt die Rettung von den Obamas? Wird Michelle Obama trotz ihre lebenslangen Hasses auf die Politik überredet, an den Wahlen teilzunehmen? Eine Chance auf Erfolg hätte sie auf jeden Fall. “
Frau Vizepräsidentin, übernehmen Sie!
Harris hätte gute Chancen gegen Trump, glaubt Iltalehti:
„Abgesehen von den Wahlkampfgeldern gibt es mehrere Argumente, die für Harris sprechen. Sie könnte mit Bidens Errungenschaften Wahlkampf machen und als gute Rednerin wäre sie in der Lage, Bidens Erfolge zu artikulieren und deutlich zu machen, wie sie sich im Alltag der US-Amerikaner auswirken. Als ehemalige Staatsanwältin könnte Harris Trumps Schwachpunkt, nämlich seine strafrechtliche Verurteilung, direkt angreifen. Sie könnte Trump auch in der Abtreibungsfrage und bei den Frauenrechten treffen, was Biden in der Debatte nicht gelungen ist, obwohl jeder weiß, dass das die Achillesferse von Trump und den Republikanern ist. Umfragen zeigen, dass die Amerikaner bereit wären, für jemand anderes als Biden oder Trump zu stimmen.“