EU boykottiert Orbán: Konsequent oder kindisch?
Die EU-Kommission und mehrere nordeuropäische Länder haben mit Boykottentscheidungen auf die außenpolitischen Alleingänge des ungarischen Premiers reagiert. Viktor Orbán hatte zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft seines Landes Putin, Xi und Trump besucht. EU-Kommissare und Vertreter mehrerer EU-Staaten wollen nun Ministertreffen in Budapest fernbleiben. Ob das der richtige Weg ist, diskutiert Europas Presse.
Strafmaßnahmen wären möglich
Der ehemalige Diplomat Harri Tiido erörtert in Eesti Päevaleht, welche Optionen Brüssel noch hat:
„Die Europäische Union hat in der Tat Vergeltungs- oder Strafmaßnahmen für den Missbrauch der Präsidentschaft vorgesehen. Eine davon wäre ein einfacher Beschluss mit qualifizierter Mehrheit zur Änderung des Zeitplans für die Präsidentschaft gemäß Artikel 236 des EU-Vertrags. Damit würde die polnische Präsidentschaft früher beginnen, zum Beispiel im September. Es gibt auch einen komplizierteren Weg: Artikel 7 könnte genutzt werden. Es ist jedoch zu befürchten, dass die EU sich bestenfalls auf eine geringe Beteiligung an den informellen Treffen in Budapest beschränken wird. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass der Westen noch zu zögerlich ist.“
Niederländische Regierung im Dilemma
Die Niederlande haben sich dem Boykott nicht angeschlossen und stehen nun vor einem Problem, analysiert NRC:
„Die PVV [des radikal-rechten Populisten Wilders] sitzt in derselben Fraktion im europäischen Parlament wie Orbáns Fidesz-Partei. ... Die Europa-Abgeordneten [der gemäßigten Koalitionspartner] NSC und VVD aber wollen einen Schritt weiter gehen und rufen gemeinsam mit Dutzenden anderen Europa-Abgeordneten dazu auf, Ungarn den Vorsitz zu entziehen. ... Für [den parteilosen] Premier Dick Schoof ist eine so gespaltene Koalition kompliziert. Von ihm wird bei europäischen Treffen und auf der Weltbühne eine einzige deutliche Position im Namen der gesamten Regierung erwartet.“
Boykott enttarnt von der Leyen
Die regierungsnahe Zeitung Magyar Nemzet verteidigt Orbáns Vorgehen:
„Ursula von der Leyen kann den Boykott der ungarischen Präsidentschaft zum Thema ihrer Wiederwahlkampagne machen, aber auch damit enttarnt sie sich selbst. Ihre kindische Reaktion auf die Friedensmission des ungarischen Premiers macht ihre Pro-Kriegs-Mission mehr als sonnenklar. ... Aber dieser Boykott lässt wieder nicht Ungarn oder Orbán schlecht aussehen, sondern die Globalisten, die an Zerstörung und Töten interessiert sind. Die alten-neuen Herren Europas sind auch die Verräter Europas.“
Von Russland fordert er nichts
Laut hvg ist es kein Wunder, wenn Viktor Orbán im Ausland mehr als kritisch gesehen wird:
„Wurde Russland von der Friedenstaube Orbán aufgefordert, nicht mehr so viele Waffen in der Ukraine einzusetzen? Ja, das ist schon wieder ausgeblieben, so wie seit zweieinhalb Jahren immer. Wie interessant! Es zeichnet sich ab, dass die Ukraine bitte für den Frieden auf Gebiete verzichten sollte, aber irgendwie hat der tapfere Sir Robin die Russen noch nicht ein einziges Mal aufgefordert, einen Schritt zurückzutreten. ... Die Friedenspolitik der Regierungspartei hat eine völlig kranke Eigenart: Sie betrachtet Russland als eine Naturmacht. Man kann es nicht beeinflussen, man kann nichts von ihm verlangen.“
Putins nützlicher Störenfried
Der Rest der EU hat allen Grund, vom ungarischen Premier genervt zu sein, so The Times:
„Orbán glaubt, dass die derzeitige EU-Ratspräsidentschaft Ungarns es ihm erlaubt, in einer konfliktbeladenen Welt den Friedensstifter zu spielen. Seine autokratischen Kollegen, die kein echtes Interesse an Vermittlung oder Schwächung ihrer Macht haben, sehen ihn offenbar gerne in seiner Rolle als nützlicher Störenfried. ... Als Orbán nach seiner Moskau-Reise Brüssel sein Resümee kommunizierte, hörte sich das wie eine Wunschliste Wladimir Putins an. ... Ungarns Staatschef will das Konzept eines liberalen Europas untergraben. Putin ist sein dunkler Verbündeter in diesem Projekt.“
Wie eine Teenager-Verschwörung
Für den Kurier ist die Haltung Brüssels gegenüber Ungarn kindisch:
„Schon die ersten Maßnahmen gegen Ungarn, die in Brüssel, aber auch in EU-Hauptstädten ausgeheckt wurden, hatten etwas von einer Teenager-Verschwörung gegen einen unliebsamen Mitschüler. EU-Gipfel in Brüssel bewusst so anzusetzen, dass sie zeitgleich mit jenen in Budapest stattfinden und diese damit ohne EU-Minister auskommen müssen, ist ein reichlich infantiler Streich. ... Die EU sollte nach den Buchstaben ihrer Gesetze vorgehen, nicht nach politischem Ermessen und mit politischen Tricks. Die kann man ruhig Orbán überlassen.“
Nicht ständig an Alleingängen abarbeiten
Auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirkt diese Reaktion übertrieben:
„Die Außen- und Sicherheitspolitik ist in der EU nicht vergemeinschaftet. Orbán kann nach Moskau, Peking oder zu Trump fahren, so wie jeder der anderen 26 Staats- und Regierungschefs auch; als Scholz und Macron mit Putin telefonierten, wurde ihnen auch nicht vorgeworfen, dass sie kein formales Mandat dafür hätten. Man hat in Brüssel deutlich gemacht, dass Orbán nicht für die EU sprach, als er bei Putin war. Das war rechtlich korrekt und politisch ausreichend. Man muss sich nicht ständig an der ungarischen Außenseiterposition in der Ukrainefrage abarbeiten.“
Schnell einen vernünftigen Plan, bitte
Die EU muss für solche Situationen ein festes Prozedere entwickeln, fordert Sydsvenskan:
„Überall auf der Welt ist die Demokratie auf dem Rückzug, autoritäre Kräfte erstarken, und auch in der EU findet man Orbáns Gesinnungsgenossen. Daher braucht die Union einen langfristigen Plan für die Zeit, in der eigenmächtige Mitgliedstaaten die Präsidentschaft innehaben – und zwar schnell, um Ungarn auch für die verbleibenden fünf Monate der Präsidentschaft im Zaum halten zu können.“
Orbán ist Europas Spaltpilz
Radio Kommersant FM hält Orbáns Rolle für weniger friedensstiftend als entzweiend:
„Das [EU-]Kollegium erklärte, niemand habe Orbán um Vermittlung gebeten, er selbst habe niemanden konsultiert, und generell widerspreche sein Vorgehen der Position der absoluten Mehrheit der Mitgliedstaaten. ... Was Orbáns Mission anbelangt, so hat es den Anschein, dass er eher die Absicht hat, die EU, oder gleich den gesamten Westen, zu spalten, als einen echten Frieden zu erreichen. Partiell geschieht dies bereits. Ungarn bürstet gegen den Strich, wobei sich der Herr Premier nicht sonderlich um Sanktionen gegen seine Person schert. Das überrascht nicht, denn er fühlt sich von externen Akteuren wie Donald Trump oder Xi Jinping unterstützt.“