Zweite Amtszeit für Ursula von der Leyen?

Am heutigen Donnerstag stimmt das EU-Parlament über eine zweite Amtszeit für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ab. Dafür bräuchte sie die absolute Mehrheit an Ja-Stimmen der 720 Abgeordneten. Unmittelbar vor ihrer Wahlrede und der anschließenden Abstimmung macht eurotopics eine kleine Stichprobe in den abwägenden Kommentarspalten der europäischen Presse.

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La Repubblica (IT) /

Angst vor der eigenen Partei

Das wird eine Zitterpartie für von der Leyen, merkt La Repubblica an:

„Mehr noch als programmatische Argumente wird sie heute Morgen im Plenarsaal die Folgen eines eventuellen Scheiterns auf den Tisch legen. Die Auswirkungen auf die EU, ihre Widerstandsfähigkeit und ihre Zukunft. Und wie sehr die Souveränisten von diesem eventuellen Sturz profitieren könnten. Argumente, die die Angst von der Leyens offenbaren. … Theoretisch besteht die 'Ursula-Mehrheit' aus 401 Abgeordneten. Erwartet werden aber mindestens 45 Abtrünnige: 20 von der EVP (beginnend mit den Franzosen), 15 von der SPE und 10 von den Liberalen. Von der Leyen traut ihrer eigenen Partei nicht über den Weg. ... Der Stab der Kommissionspräsidentin fürchtet die 'Rache' des EVP-Fraktionschefs Manfred Weber.“

Die Presse (AT) /

Wahl als Lackmustest

Der Kommissionschefin ist es gelungen, ihre Wiederwahl auf eine einfache Frage zuzuspitzen, stellt Die Presse fest:

„Ursula von der Leyen hat es geschafft. Sie hat ihre Wahl zur Kommissionspräsidentin zum Lackmustest umfunktioniert, wer in der EU noch für proeuropäische und demokratische Werte steht, und wer nicht. Ob Grüne, die gern moderat auftretenden Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) oder zahlreiche Fraktionslose: Jene Europaabgeordneten, die sich nicht ins linke beziehungsweise rechte Eck der EU-Gegner pressen lassen wollen, werden ihrem Aufruf folgen und ihr damit eine zweite Amtszeit ermöglichen.“

Frankfurter Rundschau (DE) /

Keine Alternative in Sicht

Dass von der Leyen aus allen politischen Richtungen kritisiert wird, spricht eigentlich für sie, findet die Frankfurter Rundschau:

„Könnte es sein, dass die Frau aus Deutschland inmitten von Krisen aller Art einfach nur versucht, einen Weg der Mitte zu finden? 'Der perfekte Kompromiss ist erst erreicht, wenn alle unzufrieden sind', lehrte einst der französische Politiker, europäische Denker und Nobelpreisträger Aristide Briand. Niemand muss bei der anstehenden Wahl von der Leyens vor Begeisterung vom Sessel springen. Es genügt ein realpolitisch begründetes Ja. Ein Alternativkandidat, der die Zustimmung aller EU-Regierungschefs bekäme, ist nirgends in Sicht.“

Les Echos (FR) /

Das gute Gesicht Europas gezeigt

Das Wirtschaftsblatt Les Echos wirbt:

„Seit Beginn des Ukrainekriegs, als Frankreich aufforderte, Putin nicht zu demütigen, tritt von der Leyen als unermüdliche Verteidigerin des Rechtsstaats und des europäischen Demokratiemodells hervor. Sie war der Motor bei Sanktionen und Ausbau unserer Verteidigungsanstrengungen. Sie hat das gute Gesicht Europas gezeigt. ... Während die öffentlichen Meinungen der Unterstützung für die Ukraine müde werden und der Ungar Viktor Orbán die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft schamlos ausnutzt, um vor dem russischen Präsidenten zu katzbuckeln, wäre eine Wiederwahl 'VDLs' eine schlechte Nachricht für die Feinde Europas.“

Efimerida ton Syntakton (GR) /

Eine Ohrfeige vor der Abstimmung

Dass das Gericht der EU in Luxemburg (EuG) gerade jetzt geurteilt hat, dass die EU-Kommission Ursula von der Leyens mit der Geheimhaltung von Informationen zu Corona-Impfstoffverträgen gegen EU-Recht verstoßen hat, macht es ihr nicht einfacher, meint Efimerida ton Syntakton:

„Von der Leyens Geschichte in puncto Transparenz und Zusammenarbeit mit allen Institutionen bleibt ein Problem für sie, aber auch für viele Europaabgeordnete, die sie sowohl rechts als auch links benötigen wird, um die Unterstützung einer absoluten Mehrheit zu gewinnen. Die Geheimnisse, die sie bewahrt hat, beschäftigen die Gesetzgeber. ... Da es in den USA immer chaotischer zugeht, besteht selbst bei vielen ihrer Kritiker wenig Interesse daran, durch ihre Ablehnung noch mehr Instabilität zu schaffen.“