Kursk-Offensive: Was sind die Konsequenzen?
Ukrainische Truppen sind nach Angaben von Präsident Selenskyj in der russischen Grenzregion Kursk weiter auf dem Vormarsch. Es seien auch noch mehr russische Soldaten gefangen genommen worden. Laut russischen Behörden sind etwa 120.000 Menschen geflohen oder evakuiert worden. Europäische Kommentatoren debattieren über Reaktionen und mögliche Folgen.
Einschätzungen in Ost und West grundverschieden
Interia-Redakteur Jarosław Kuisz ärgert sich über die Wahrnehmung in Westeuropa und den USA:
„Der Unterschied zwischen den Reaktionen in Warschau und Vilnius gegenüber denen in westeuropäischen Hauptstädten oder Washington sind schwer zu übersehen. Bei uns Begeisterung, dort Fragen nach Putins Vergeltungsmaßnahmen. In Polen Ermutigung zur Entmilitarisierung von Teilen Russlands, dort Nachdenken über die Zweckmäßigkeit des Kyjiwer Vorgehens. Das Schlimmste in den Presseberichten ist der Vergleich des verzweifelten Einsatzes des sich verteidigenden Landes mit 1941 oder der Schlacht von Kursk [1943]. Diese haltlosen Vergleiche habe ich in den westlichen Medien seit Beginn des ukrainischen Angriffs Dutzende Male gehört. Das ist einfach absurd. Und zudem politisch äußerst schädlich.“
Sieger gibt es nicht
Laut Tages-Anzeiger offenbart die Kursk-Offensive die Sinnlosigkeit einer Fortsetzung des Kriegs:
„So wie die Führung in Kiew womöglich überzogene Hoffnungen mit dem Kursk-Vorstoss verbindet, so interpretiert Putin minimale Geländegewinne etwa in Tschassiw Jar als bevorstehenden Durchbruch und russische Überlegenheit. Überlegen ist in diesem Krieg aber niemand mehr. Es geht um Leidensfähigkeit und Durchhaltekraft. Die Führung in Kiew hat das sehr wohl verstanden und signalisiert behutsam ihre Bereitschaft zur Beendigung der sinnentleerten Übung. Selbst den Vorstoss nach Kursk kann man als Appell verstehen: Siehe, ihr seid verwundbar - es wird hier keinen Sieger geben.“
Wertvolles Faustpfand für künftige Verhandlungen
Exil-Politiker Maxim Katz sieht auf Echo die Eroberungen der Ukrainer als Kapital für kommende Friedensgespräche:
„Verhandlungen liegen jetzt noch in weiter Ferne, aber eines Tages werden sie stattfinden. Und in diese mit der Kontrolle über einen Teil der Region Kursk einzutreten, ist eine wirklich starke Position. Selbst ein paar hundert Quadratkilometer international anerkanntes russisches Territorium sind im Rahmen von Verhandlungen mehr wert als alles, was Putin erobern und sich per Verfassung zuschreiben konnte. ... Solange sich die ukrainische Seite nicht schwerwiegend dumme Fehler leistet, Flankenangriffe zulässt und militärische Regeln missachtet, wird Russlands Armee in ihrem jetzigen Zustand mindestens ein Jahr brauchen, um unter großen Verlusten an die Staatsgrenze zurückzukehren.“
Der Kreml wirkt überrascht und planlos
Nüchtern analysiert Sicherheitsexperte Erkki Koort in Postimees, wie Moskau mit dem ukrainischen Angriff umgeht:
„Es steht fest, dass Russland entweder nicht von der Invasion gewusst hat oder aber nicht angemessen reagiert hat. Schaut man sich die Treffen des russischen Präsidenten mit den Leitern der Sicherheitsdienste und den Gouverneuren an, wird deutlich, dass es Verwirrung gibt. Man kann nur erahnen, was in dem Raum los ist, wenn die Gespräche nicht öffentlich übertragen werden. ... Man muss nun damit rechnen, dass fast 200.000 Menschen in Bewegung sind und sich die Informationen verbreiten. Das könnte zu spontanen Versammlungen und Unruhen führen. Die Nationalgarde muss sich zusammen mit dem FSB darauf vorbereiten, diese zu verhindern beziehungsweise aufzulösen.“
Kyjiws Hauptziel wohl bislang verfehlt
Bisher verlegen die Russen keine Truppen in Richtung Kursk, schreibt Gazeta Wyborcza:
„Wenn es darum ging, die Russen zu zwingen, Einheiten aus den Frontabschnitten, in denen sie seit Monaten eine langsame, aber erfolgreiche Offensive führen, in das Gebiet um Kursk zu verlegen, so ist dies nicht gelungen. Im Donbas, wo die Lage für die ukrainischen Truppen am schwierigsten ist, ist die Zahl der Angriffe zwar zurückgegangen (laut dem ukrainischen Experten Oleg Schdanow, der täglich detaillierte Berichte von der Front veröffentlicht, um 30 Prozent), aber die Russen rücken immer noch stetig vor, zum Beispiel bei Pokrowsk oder in Tschassiw Jar.“
Ein Dinosaurier ist nicht so schnell
Julia Latynina erklärt bei Echo die mangelnde Beweglichkeit der russischen Armee:
„Das Eindringen in das Gebiet Kursk ist ein glänzender taktischer Erfolg der ukrainischen Streitkräfte. Sie haben eine Menge Ziele erreicht. ... Zu sagen, dass 'nun schon eine Woche vergangen ist und Putin kann immer noch nichts tun', ist meiner Meinung nach jedoch die falsche Herangehensweise. ... Es ist gut möglich, dass die russische Armee einfach nicht sofort reagiert hat, weil sie es nicht konnte. Ein Dinosaurier kann nicht schnell eine Kehrtwende machen. Er macht das anders.“
Langfristig sitzt Moskau am längeren Hebel
Kommentator Maxim Jussin hält das ukrainische Vorgehen in Kommersant für riskant:
„Es ertönen die Stimmen westlicher Militäranalytiker, die vorschlagen, die Situation nicht im Rahmen von Emotionen, Hype und PR zu betrachten, sondern global. In dem Fall wird klar: Kyjiw hat einen sehr riskanten Schritt unternommen. ... Die ukrainischen Kräfte können per definitionem nicht ernsthaft in die Tiefe des russischen Gebiets eindringen, früher oder später wird die Front stillstehen. Und von dem Moment an wird Moskau, das enorm viel mehr menschliche Ressourcen besitzt und dessen Feuerkraft viel größer ist, einen Vorteil aus der Lage ziehen.“
Putin vertraut nur noch dem Geheimdienst
Ukrainische Erfolge in der Region Kursk unterminieren Putins Vertrauen in die eigene Armee, schlussfolgert NV:
„Wladimir Putin vertraut weder dem russischen Generalstab noch dem Verteidigungsministerium mehr. ... Er machte deutlich, dass das Militär bei ihm in Ungnade gefallen ist, als er eine sogenannte Antiterroroperation in der Region Kursk sowie in den benachbarten Regionen Brjansk und Belgorod verkündete. Was ist das? Das heißt, dass die Steuerung der Truppen sozusagen von der Armee, vom Militär, auf den FSB übertragen wird. Warum auf den FSB? Weil Wladimir Putin selbst aus dieser Struktur stammt. Die FSBler sind die einzigen Vertreter der Sicherheitskräfte, denen er nahezu vollständig vertraut.“
Zynische Heuchelei
Nun dreht sich der Spieß um, meint der Publizist Paul Lendvai in Der Standard:
„Zu Recht werden ... die Klagen Putins und seines gewaltigen Medienapparats über die ukrainischen 'Provokateure' und 'Terroristen' von westlichen Beobachtern als zynische Heuchelei verurteilt. Was im Kursker Gebiet der dort lebenden Zivilbevölkerung passiert, ist für die Menschen in Kiew, Charkiw und Lemberg [Lwiw] seit Februar 2022 trauriger Alltag. Millionen Flüchtlinge, zerstörte Kraftwerke und Städte mit tausenden Opfern quer durch die Ukraine sind die Folgen des Größenwahns der russischen Nationalisten, die den ukrainischen Staat auslöschen wollen.“
Russische Armee bereit zum Aufstand
Kolumnist Murat Sururi Özbülbül spekuliert in Yeniçağ über ein Ende von Putins Herrschaft:
„Ich glaube, dass die russische Armee Putin nicht mehr gehorcht und sich auf einen Aufstand vorbereitet. Wenn dies zutrifft und es zu einem solchen Konflikt kommt, bedeutet das, dass Putin nicht nur die Orte verlieren wird, die er besetzt hat, sondern dass er in naher Zukunft auch die Macht und damit sein Leben verlieren wird. Es ist natürlich für die Welt äußerst wichtig, ob dies einen Krieg zur Folge hätte oder nicht und ob die neue Regierung, die in Russland eingesetzt wird, den gleichen Weg wie Putin gehen wird. Der Sturz Putins und vor allem die Demokratisierung Russlands wären ein Ereignis, das das gesamte Gleichgewicht in der Welt und insbesondere im Nahen Osten radikal verändern würde.“
Putin wird mit wahlloser Brutalität antworten
Gazeta Wyborcza rechnet mit einer rücksichtslosen militärischen Antwort Putins:
„Moskau bereitet sich zweifellos auf seine typische Reaktion auf militärische Niederlagen vor, nämlich wahllos mit allem, was es hat, auf das Territorium der Ukraine zu feuern, auch auf zivile Ziele. ... Putin wird auch dieses Mal nicht zögern. Er muss nach der Blamage sein Gesicht wahren. Wie der Oppositionelle Leonid Gosman richtig bemerkte, 'kann ein Zar, der sein Territorium nicht verteidigen kann, kein Zar bleiben'.“
Ein Motivationsschub
Nach Monaten voller frustrierender Nachrichten freut sich Õhtuleht über die neue Wendung:
„Plötzlich unternahmen die Ukrainer das, was man ihnen kaum zugetraut hätte. Es gelang ihnen, den Krieg auf die Seite des Aggressors zu tragen. ... Die Kühnheit und der Tatendrang, mit dem die Ukrainer (zumindest am Montagabend) weitermachen, ist eine lang erwartete und dringend benötigte Botschaft an alle, die eine blau-gelbe Fahne im Herzen tragen. Sie war in mehr als einer Hinsicht notwendig. Erstens machte sich unter den westlichen Verbündeten bereits eine unübersehbare Kriegsmüdigkeit breit. .... Und auch die Ukraine selbst braucht dringend einen Motivationsschub!“
Signal an westliche Unterstützer
Der Vorstoß beweist, dass die Ukraine die Militärhilfe zu nutzen weiß, analysiert Financial Times:
„Die Ukraine hat gelernt, dass Erfolge auf dem Schlachtfeld der beste Weg sind, ihre internationalen Verbündeten zu mehr militärischer Hilfe und Lieferung von Ausrüstung zu bewegen. Mit der Durchführung eines offenbar hochmobilen Angriffs unter Einsatz von Panzerfahrzeugen und Luftabwehrsystemen aus dem Westen sendet Kyjiw westlichen Hauptstädten die Botschaft, dass diese Unterstützung nicht vergeblich ist. Und obwohl es große Zweifel daran gibt, ob die Ukraine über die nötige Mannstärke und Ausrüstung verfügt, um ihre Gewinne langfristig zu halten, könnte die Sicherung eines Teils russischen Territoriums ihre Position in Verhandlungen mit Moskau stärken.“
Einsatz gelieferter Waffen ist unkontrollierbar
Politiken freut sich über den Vorstoß, zieht daraus aber auch eine Lehre:
„Gleichzeitig unterstreicht die Aktion auch, dass Kriege ihre eigene Logik haben und dass es für den Westen nicht wirklich möglich ist, den Einsatz der Waffen, die wir verkaufen und spenden, aus der Ferne zu kontrollieren. ... Es ist wichtig zu betonen, dass wir deren Einsatz in der realen Welt nicht im Detail kontrollieren können, wenn der Westen Waffen an Krieg führende Länder wie die Ukraine und Israel schickt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken - auch wenn wir jetzt die Daumen dafür drücken, dass der Erfolg der Ukraine im Kampf für die Freiheit anhält.“
Riskant und doch richtig
Für Telegraf hat sich der Vorstoß bereits gelohnt:
„Wird diese Operation ein Erfolg, wird sie als Beispiel in die militärischen Lehrbücher eingehen, wie man einen in jeder Hinsicht überlegenen Gegner aufhalten und sogar besiegen kann. Aber ob sie erfolgreich enden wird, dafür kann niemand eine Garantie geben. ... Dennoch musste das Risiko eingegangen werden, denn sonst hätten wir eine langwierige Verteidigung in einem Stellungskrieg mit einem für uns von vornherein enttäuschenden Resultat. Selbst wenn das eigentliche Vorhaben und die Ergebnisse auf dem Boden nicht ganz übereinstimmen werden, haben wir in diesen drei Tagen bereits mehr feindliche Logistik zerstört als in den sechs Monaten davor und gezeigt, dass wir schnell, kreativ und gefährlich handeln können.“
Kyjiw stärkt seine Verhandlungsposition
Der Vorstoß eröffnet der Ukraine neue Spielräume, schreibt RFI România:
„Wenn die Ukraine die Kontrolle über die Gasstation in Sudscha halten kann, würde das Russland um einen erheblichen Teil der Einnahmen bringen, mit dem es den Krieg finanziert. Zudem wird durch die ukrainische Kontrolle eines Teils des russischen Territoriums Russlands Anspruch zunichte gemacht, bei möglichen Friedensgesprächen darauf zu verweisen, dass man militärisch überlegen sei. Unter diesem Gesichtspunkt stärkt die Offensive die Verhandlungsposition der Ukraine erheblich. Vorausgesetzt, die Ukraine kann den Vorstoß halten.“
Vorbehalte bei Waffennutzung aufgeben
Savon Sanomat hofft, dass das Vorgehen im Westen gebilligt wird:
„Trotz ihres bisherigen Erfolgs ist die ukrainische Operation ein großes Risiko. Nicht nur, dass es einen heftigen russischen Gegenangriff und Vergeltungsmaßnahmen geben wird, es ist auch unklar, was der Westen davon hält. ... In vielen Ländern stellt man sich auf den Standpunkt, dass die gelieferten Waffen nur zur Verteidigung auf ukrainischem Gebiet eingesetzt werden können. Die USA haben bereits deutlich gemacht, dass das Vorgehen der Ukraine in Kursk nicht gegen die Beschränkungen für amerikanische Waffen verstößt. Andere Länder sollten dem Beispiel folgen. Der Ukraine dürfen nicht die Hände gebunden sein, wenn der Feind ungehemmt angreift.“
Westen schaut genau auf Moskaus Reaktion
Rzeczpospolita beobachtet:
„Die ukrainische Offensive hat auch an einer ganz anderen, weniger offensichtlichen Front einen Sieg gebracht. Es ist bezeichnend, dass sich die westlichen Staaten zunächst nicht zu diesen Ereignissen geäußert haben. Wahrscheinlich beobachteten sie die Fortschritte der ukrainischen Streitkräfte, warteten aber auch auf die Reaktion Moskaus. Erst nachdem Putin die Sitzung des Sicherheitsrates beendet hatte, ohne eine Generalmobilmachung oder das Kriegsrecht auszurufen, erschienen die ersten Kommentare, unter anderem seitens der USA und Deutschlands.“
Kyjiw fährt eine Doppelstrategie
Der ehemalige Militär Hannes Toomsalu erklärt in Postimees:
„Es ist sicher nicht das Ziel der Ukrainer, das alte Kosakensiedlungsgebiet zu besetzen und einzunehmen. Vielmehr geht es darum, die Russen zu zwingen, Einheiten von der Ostfront nach Norden zu bringen. Aber auch darum, Unzufriedenheit unter den russischen Bürgern zu schaffen und Putins Regierung zu untergraben.“
Ruf nach Aufmerksamkeit
Naftemporiki analysiert:
„Die Russen sind militärisch nicht in Gefahr, ihr einziges Problem besteht darin, ihr Image zu wahren. Andererseits hat der ukrainische Präsident Selenskyj, der politisch und auf dem Schlachtfeld mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, eine Initiative ergriffen, um der öffentlichen Meinung und seinen Anhängern zu zeigen, dass die Ukraine immer noch das Potenzial hat, den Russen einige Probleme zu bereiten. Und es gibt noch eine andere Sichtweise: Mit einem bevorstehenden iranischen Angriff auf Israel könnte die Ukraine aus dem Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit geraten. Und Selenskyj wollte die Aufmerksamkeit des Westens in diesem Krieg in der Ukraine aufrechterhalten.“
Militärisches Vabanquespiel
Dieser Vorstoß könnte sich noch rächen, fürchtet das Handelsblatt:
„Zum einen verbreitert der Vorstoß die Front, die ohnehin kaum noch zu halten ist. Zwar bindet der Angriff zumindest vorübergehend auch russische Kräfte. Doch die ukrainischen Soldaten, die jetzt in Russland kämpfen, fehlen an Frontabschnitten, die löchrig zu werden drohen. ... Riskant ist der Vorstoß aber auch aus einem zweiten Grund. Zwar hat der Westen den Einsatz gelieferter Waffen auch gegen militärische Ziele im russischen Grenzgebiet erlaubt. Aber sollten bei der Attacke etwa deutsche Leopard-Panzer in die Hände der Russen fallen, könnte Wladimir Putin sie dankbar als Beleg für seine Erzählung nutzen, dass in Wahrheit eben doch die Nato Krieg gegen Russland führe.“
Putin hat sich völlig verkalkuliert
Die ukrainische Offensive in Kursk zeigt in erster Linie die Schwäche des russischen Aggressors, so Spotmedia:
„Im Krieg, den Putin einst auf maximal zwei Wochen angesetzt hatte, um die Regierung von Kyjiw zu stürzen, halten die Ukrainer auch zweieinhalb Jahre später noch stand und führen inzwischen eine militärische Offensive in Russland. Das sagt alles über die strategischen Fehler des Kremlführers.“
Kreml spricht noch immer nicht von Krieg
Politologe Wolodymyr Fessenko weist in NV auf die zurückhaltende Reaktion des Kreml hin:
„Putin bezeichnete das als 'groß angelegte ukrainische Provokation', erklärte aber der Ukraine nicht offiziell den Krieg, obwohl er in den russischen sozialen Netzwerken und Telegram-Kanälen dazu aufgefordert wurde. Darüber hinaus ist kein Einsatz taktischer Atomwaffen gegen die Ukraine im Gespräch. … Es ist offensichtlich, dass Putin den gegenwärtigen Krieg nicht zusätzlich anheizen und seine Intensität und Härte nicht steigern will. Denn das könnte zu unkontrollierbaren negativen Folgen sowohl für die künftigen Beziehungen Russlands zum Westen als auch für die Entwicklung der innenpolitischen Situation führen.“
Moskau steht vor schwieriger Entscheidung
Wladislaw Inosemzew reflektiert auf Facebook die gefährlichen Folgen für Russland:
„Das Eindringen von Einheiten der ukrainischen Streitkräfte in das Gebiet Kursk stellt die Führung des Landes vor eine sehr schwere Wahl bei der Frage, wie die jüngsten Ereignisse einzuschätzen sind und wie auf sie reagiert werden muss. ... Man kann sie als Kriegserklärung an Russland bezeichnen, aber das ist gefährlich. ... Gibt man das zu, muss im Land der Kriegszustand verhängt und möglicherweise die allgemeine Mobilmachung ausgerufen werden; das führt zur Anwendung von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine und letztendlich zum Ruf nach Hilfe an die Teilnehmerländer der OVKS.“
Ein strategisches Ziel bereits erreicht
Die Strategie hinter dem Vorstoß analysiert die Publizistin Julia Latynina in Echo:
„Was das AKW Kursk betrifft, ist es schwer, sich festzulegen, aber das offensichtliche Ziel ist schon unter Kontrolle gebracht: die Gasmessstation Sudsha, die für Putin von enormer Wichtigkeit ist, denn über sie fließt Gas nach Europa. ... Berücksichtigt man die kümmerlichen russischen Reserven, wird Putin wohl gezwungen sein, schnell Truppen aus dem Donbass abzuziehen, wo die Front nur schwer gehalten wird, und sie ins Gebiet Kursk zu verlegen. Dafür wurde das alles ja unternommen.“
Riskantes Unterfangen
La Stampa wägt ab:
„In Anbetracht der komplizierten Lage der Ukrainer an der Ostfront von Donezk einerseits und der Debatte über den Einsatz westlicher Waffen in Russland andererseits - die zwar bei allen wichtigen Nato-Verbündeten (mit Ausnahme Italiens, das weiterhin gegen den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Hoheitsgebiet ist) überholt ist, aber zum Nachteil Kyjiws reaktiviert werden könnte - mag die ukrainische Aktion leichtsinnig, wenn nicht gar töricht anmuten. ... Sie könnte sich entweder als gigantischer Flop erweisen oder als brillanter Schachzug, um die politische, militärische und wer weiß, vielleicht sogar diplomatische Dynamik wieder ins Gleichgewicht zu bringen.“
Die Gewalt kommt zurück
Dass Putin nun über eine "groß angelegte Provokation" der Ukraine klagt, findet die Frankfurter Allgemeine Zeitung einfach nur grotesk:
„Was im Kursker Gebiet nun geschieht, ist schrecklich für die dort lebende Zivilbevölkerung. Die Verantwortung dafür liegt jedoch vollständig bei dem Machthaber im Kreml. Hätte er nicht die Ukraine überfallen, dann könnten die Russen in den Ortschaften der Grenze im Südwesten weiter ein ruhiges und friedliches Leben führen. Putin hat von Beginn seiner Herrschaft auf Gewalt gesetzt: gegen Tschetschenen, Georgier, Syrer, Ukrainer. Nun kommt diese Gewalt zurück zu den Russen.“
Keine Provokation, sondern Initiative
Dass Putin von einer Provokation spricht, erheitert den Politologen Abbas Galliamow, der auf Facebook schreibt:
„Warum eine 'Provokation'? Es ist Krieg, in dessen Rahmen eine Militäraktion durchgeführt wird - das ist doch eine standardmäßige Geschichte, oder? Schlecht ist, dass Menschen ums Leben kommen, aber warum wird dem Geschehen das Etikett 'Provokation' aufgedrückt? Weil ihr das nicht erwartet habt? Ihr habt nicht erwartet, dass der Feind Initiative zeigt? … Hat man euch das in euren Akademien nicht beigebracht? Nun ja, dann ist das tatsächlich eine 'Provokation'.“