Fall Durow: Welche Grenzen braucht Telegram?
Der in Paris festgenommene Telegram-Chef Pawel Durow ist unter Auflagen und gegen fünf Millionen Euro Kaution wieder freigekommen, darf Frankreich aber nicht verlassen. Die französische Justiz wirft dem Milliardär mit russischer und französischer Staatsbürgerschaft Mithilfe und Komplizenschaft bei schweren Straftaten vor, die über Telegram koordiniert wurden, darunter auch Kinderpornografie, und hat ein Verfahren eingeleitet.
Sprung aufs nächste Level
Nach der Freilassung Durows unter Auflagen verbreitet Journalist Stanislaw Kutscher auf Facebook eine positive Sicht der Dinge:
„Pawel Durow wird die nächste Zeit in Paris leben müssen. ... Telegram bleibt eine Plattform, die jedem offen steht, selbst Präsident Macron, bevor - wenn nicht zuvor eine Einigung erzielt wird - ein offener Prozess stattfindet, bei dem alle Beteiligten öffentlich diskutieren können, was der Staat und was der Eigentümer einer sozialen Plattform tun können und was nicht. ... Ich bin mir sicher, dass Durow genug unternehmerische Leidenschaft und Erfahrung in der Arbeit an sich selbst hat, um diese ganze Geschichte als Abenteuer und Gelegenheit zu sehen, sowohl Telegram als auch sich selbst auf eine neue Entwicklungsstufe zu bringen.“
Gravierende Veränderungen am Markt möglich
TVnet erörtert langfristigere Folgen der Angelegenheit für die Branche:
„Es ist möglich, dass das Gerichtsverfahren gegen Telegram einen neuen rechtlichen Präzedenzfall schafft, der auch soziale Netzwerke, Cloud-Speicher und sogar Kryptowährungsunternehmen betrifft. ... Auch gravierende Veränderungen am Markt sind möglich. Telegram ist einer der letzten großen Player, der noch unabhängig von großen Konzernen wie Meta und Google ist. Schwere Sanktionen oder Beschränkungen könnten die Position der Plattform erheblich schwächen und den Weg für die Konsolidierung von Monopolen durch andere Giganten ebnen, die bereits einen großen Teil des Marktes kontrollieren.“
Verschlüsseln, aber auch Auskunft geben
Le Temps skizziert, wie Messenger-Dienste künftig mit Daten umgehen sollten:
„Telegram hat einen bedeutenden Fehler gemacht: fast nie Aufforderungen der Polizei für rechtmäßige Gesuche um Information über Nutzer nachzukommen. ... Unserer Ansicht nach muss Messengern weiterhin gestattet werden, Nutzern, die dies wünschen, eine Komplettverschlüsselung anzubieten: Dies ist ein grundlegender Schutz für Privatleben und Meinungsfreiheit. Gleichzeitig müssen Messenger sich an das Gesetz halten, was fundamental ist: Werden auf rechtlicher Grundlage Informationen angefordert, müssen sie Folge leisten mit den Daten, die ihnen über die Nutzer vorliegen, und zwar ohne jemals diese Verschlüsselung zu brechen.“
So sollte überall vorgegangen werden
Yeni-Şafak-Kolumnist Mehmet Akif Soysal kritisiert angesichts von Frankreichs Handeln eine gewisse Doppelmoral, sieht aber auch Erdoğans Medienpolitik bestätigt:
„Stellen Sie sich vor, Mark Zuckerberg würde in Ankara verhaftet, weil er nicht einmal friedliche Protestbotschaften auf Instagram gegen das Massaker im Gazastreifen duldet. ... Würde dann nicht die Hölle losbrechen? ... Ich stimme mit Macrons Aussagen 100 Prozent überein. ... In einem Rechtsstaat müssen die Freiheiten sowohl in den sozialen Medien als auch im realen Leben innerhalb eines rechtlichen Rahmens geschützt werden. Das Vorgehen der Türkei gegen soziale Medien ist richtig. Äußerungen und Handlungen, die im realen Leben rechtliche Konsequenzen haben, sollten in sozialen Medien die gleichen Konsequenzen haben.“
Öffentlichem Raum Regeln geben
Bei RFI România beschäftigt man sich mit der Frage, was Telegram eigentlich ist:
„Bei Telegram kann jeder in ein illegales Geschäft einsteigen. Es ist auch keine Medieninstitution, die sich auf die Meinungsfreiheit berufen könnte – die auch ihre Grenzen hat, die durch Gesetze und die Verfassungsprinzipien festgelegt sind. Telegram ist auch kein privates Nachrichtensystem, das durch die Garantie des Briefgeheimnisses geschützt wäre. Telegram ist ein öffentlicher Raum. Und wenn es im öffentlichen Raum zu Straftaten kommt, dann handeln Staaten. Genau das haben die französischen Behörden eben getan.“
Durow hat einige Trümpfe im Ärmel
Der Journalist Toms Lūsis spekuliert bei Tvnet, wie der Fall weitergehen könnte:
„Was nun sehr interessant ist, ist die Frage, was Durow bereit sein wird auf den Verhandlungstisch zu legen, damit er aufgrund der möglicherweise erhobenen Anklagen nicht im Gefängnis sitzen muss. ... Da Telegram nicht nur von den russischen Behörden, sondern sogar von der Armee zur Kommunikation genutzt wird, können wir sicher sein, dass Durow über genügend Informationen verfügt, mit denen er agieren kann. Die Frage ist nur, mit wie vielen bösen Trümpfen er nach Paris gekommen ist. Aber wir werden es wahrscheinlich bald herausfinden.“
Wichtig für das russische Militär
Die ukrainische Armeehelferin Marija Berlinska schreibt auf Gordonua.com:
„Wird Pawel gezwungen, die russischen Kanäle und Gruppen zu schließen, werden die Russen einen Großteil ihrer Kommunikationsmöglichkeiten verlieren. ... Stellen wir uns vor, dass auf einmal alle Propagandakanäle, alle 'Militärblogger' und vor allem Tausende von Datenaustauschkanälen zwischen den Einheiten sowie Koordinationskanäle ihrer 'freiwilligen Armeehelfer' verschwinden. Ja, es würde für eine Weile ein Moment des Chaos und der Desorganisation eintreten. Deshalb verteidigen russische Propagandisten Pascha [Pawel Durow] so aktiv, und zwar im Einklang mit einigen westlichen Liberalen.“
Brüssel muss sich jetzt beweisen
Eine Bewährungsprobe für die EU sieht Le Monde:
„Der Fall erschüttert die Welt der digitalen Kommunikation, wo Sympathisanten von Pawel Durow, wie X-Chef Elon Musk, eine Verletzung der Meinungsfreiheit beklagen. Er ist auch ein wichtiger rechtlicher und politischer Test für die Europäische Union, die sich in den letzten Jahren als Vorkämpferin für die demokratische Regulierung digitaler Plattformen etabliert hat. Da die europäischen Länder besonders anfällig für Terrorismus und Desinformationskampagnen sind, die die Demokratien destabilisieren wollen, sind sie gezwungen, ihre Wachsamkeit zu erhöhen, ohne dabei die Rechtsstaatlichkeit zu gefährden.“
Fast alles ist für den Betreiber sichtbar
IT-Fachmann Dan Bogdanov erklärt in Eesti Päevaleht:
„Telegram hat mehrere zehn Millionen Nutzer in Russland und der Ukraine und ist eine sehr wichtige Informationsquelle zu dem laufenden Krieg. Dies geschieht über Chaträume mit Tausenden von Teilnehmern sowie über Kanäle, die die Nutzer abonnieren können. Man sollte über Telegram wissen, dass es weder für Chaträume noch für Kanäle eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung verwendet. Das heißt, dass alles – was gesagt wird und wer es sagt – für den Telegram-Dienstanbieter sichtbar ist und möglicherweise zur späteren Verwendung gespeichert wird. Kurz gesagt, Telegram präsentiert sich als sichere Chat-App, bietet diesen Dienst aber nur in Zwei-Wege-Gesprächen an, und auch nur dann, wenn die Benutzer ihn umständlich einschalten.“
Regierungen haben Geduld verloren
Spotmedia hält diesen Schritt für richtig:
„Die Verhaftung des Telegram-Geschäftsführers ist eine beispiellose Aktion, die eine klare Botschaft an die Milliardäre aussendet, die die sozialen Netzwerke kontrollieren: dass die Regierungen ihre Geduld verloren haben. Rassistische Angriffe, Terrorismus, religiöser Radikalismus und verlogene politische Propaganda werden in den sozialen Netzwerken intensiv gefördert und unterstützt. Trotz wiederholter Rechtsverstöße gegen Gesetze, die die offene Gesellschaft regeln, sind die Verwalter digitaler Plattformen offenbar nicht willens oder nicht in der Lage, der Förderung von Hass, der Anstiftung zum Mord oder dem Betrug im Internet Einhalt zu gebieten.“
Das freut die Autokraten
Die Online-Plattform ist in vielen Ländern eine von wenigen Alternativen zu staatlichen Propaganda-Kanälen, erklärt Kolumnist Hugo Rifkind in The Times:
„Telegram wird nicht nur von Russen genutzt, die Propaganda verbreiten, sondern auch von Russen, die diese umgehen wollen – und ebenso von Ukrainern. Im Nahen Osten erfreut sich der Dienst großer Beliebtheit, sowohl bei Menschen, die einem wohl sympathisch wären, als auch bei Menschen, die man eher meiden würde. Immer mehr genutzt wird Telegram auch in Indien, wo die Online-Zensur durch Premier Narendra Modi zunimmt. Werden sich die Regierungen von Ländern, die weit weniger frei sind als Frankreich, durch Durows Verhaftung ermutigt fühlen? Definitiv.“
Durow kooperiert durchaus mit der Macht
Maria Pewtschich, Chefin des Nawalny-Netzwerkes FBK, widerspricht in einem von Echo übernommenen X-Post der These, Telegram hätte Geheimdiensten bisher pauschal einen Korb gegeben:
„Telegram und Durow arbeiten BEREITS perfekt mit den Behörden zusammen, wenn es um Politik geht (Löschung des Bots zum 'Klugen Wählen' und des Kanals der Ehefrauen der Mobilisierten [beide in Russland], Sperrung von RT im Ausland usw.). Und es ist schon seltsam, einen Kanal mit einer Liste registrierter Duma-Kandidaten zu sperren, aber nicht einen Kanal mit einer Liste aller existierenden harten Drogen, die innerhalb von 15 Minuten geliefert werden können. Telegram kennt und sieht diese Kanäle sehr gut (viel besser als wir), entscheidet aber, sie nicht zu blockieren. Mäßigen wir also den Eifer mit all den Argumenten über Durow, den Kämpfer.“
Eine angemessene Balance finden
Der Philosoph und Publizist Artis Svece weist in Satori auf das notwendige Abwägen von im Konflikt miteinander stehenden Werten hin:
„Zunächst erscheint es überraschend, dass die Polizei des demokratischen, liberalen Frankreichs einen solchen Verteidiger der Meinungsfreiheit festnimmt, während Russland sich beeilt, ihn zu verteidigen. ... Es versteht sich von selbst, dass Informationsfreiheit nicht der einzige Wert der westlichen Gesellschaft ist und manchmal auch Werte miteinander in Konflikt geraten, etwa der Wunsch, Kinder zu schützen, und Kommunikation ohne Zensur. Die Frage ist, ob es uns Europäern immer gelingt, jene Balance zwischen den Werten zu finden, die das Leben in diesem Teil der Welt mit unserer Selbstachtung und einem beneidenswerten Vorbild für andere vereinbar machen.“
Auch die Geheimdienste hätten ihre Gründe
Kostjantyn Korsun, Fachanwalt für Internetrecht, findet auf Censor.net die Verhaftung nur folgerichtig:
„Man kann nicht jahrelang den Polizisten der mächtigsten Länder der Welt ins Gesicht spucken und hoffen, ungestraft davon zu kommen. Man kann nicht jahrelang auf die globalen 'Spielregeln' pfeifen, die die Entfernung bestimmter Inhalte vorschreiben. Man kann nicht Konkurrenten schlagen, indem man die Grenzen des Erlaubten ignoriert. ... Ich vermute, unter den nicht öffentlich gemachten Vorwürfen findet sich auch die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten des Terror-Staates [Russland]. Ich bin sicher, dass die französische Spionageabwehr DGSI bereits ein dickes Dossier zu diesem Thema zusammengestellt hat.“
Telegram ist kein Medium
Menschenrechtler Alexander Podrabinek skizziert auf Facebook den Zwiespalt zwischen staatlicher Aufsicht und Meinungsfreiheit:
„Einerseits: Warum sollte man der Polizei eines demokratischen Staates nicht helfen, reale Verbrecher zu finden? Andererseits: Polizei ist Polizei. ... Telegram ist ein Messenger, kein Massenmedium. Sollte Durow die Korrespondenz zensieren? Nach dieser Logik müssten auch Telefongesellschaften die Gespräche ihrer Teilnehmer abhören und Unerlaubtes unterbinden. Geht das in einer Demokratie in Ordnung? In China, Russland, Belarus und anderen despotischen Regimen wird es so gehandhabt.“
Der einzige Messenger der russischen Armee
Russland reagiert mit Panik, analysiert Jutarnji list:
„Der ehemalige Berater des ukrainischen Innenministers Anton Heraschtschenko veröffentlichte auf X einige Kommentare in russischen sozialen Netzwerken nach Durows Verhaftung. Er sieht dort Spekulationen und Panik. 'Angeblich hat Durow vor ein paar Tagen um ein Treffen mit Putin in Baku gebeten und wurde abgelehnt.' 'Die Verhaftung Durows könnte dem Knacken des Enigma-Codes durch die Briten während des Zweiten Weltkriegs ähneln: Telegram ist der einzige Messenger der russischen Armee. Alle ihre Botschaften könnten in die Hände des Westens gelangen', 'Das russische Agentennetzwerk könnte aufgedeckt werden', heißt es in einigen Kommentaren.“
Dienst ist Fluch und Segen zugleich
Menschenrechtler Lew Ponomarjow plädiert in einem von Echo übernommenen X-Post für einen Weltstandard für Moderation im Internet:
„Einige sagen, dass Durow schon lange den russischen Behörden Informationen gibt, und es gab Präzedenzfälle, die das bestätigten. Aber ich weiß auch, dass Widerstand gegen das russische Regime ohne Telegram jetzt fast unmöglich wäre. Nach einer Freilassung von Pawel Durow muss die Weltgemeinschaft eine große Diskussion zu diesem Thema beginnen. ... Vielleicht sollten die demokratischen Länder eine Art internationales Komitee gründen, das ein einheitliches Reglement für die Moderation aller großen Informationsplattformen entwickelt. Es braucht ein gewisses Minimum zur Bekämpfung von Dingen wie etwa der Verbreitung verbotener Waren und Materialien.“