Welche Ziele darf die Ukraine mit Raketen angreifen?
Die Ukraine fordert von den USA und Großbritannien, mit weitreichenden Raketen militärische Ziele im Innern Russlands angreifen zu dürfen. Ein Treffen letzte Woche zwischen US-Präsident Joe Biden und UK-Premier Keir Starmer brachte vorerst keinen Kurswechsel. Derweil warnt Wladimir Putin, ein solcher Einsatz westlicher Präzisionswaffen würde als Kriegsbeteiligung der Nato gewertet. Europas Presse debattiert, was auf dem Spiel steht.
Nicht auf Putins nützliche Idioten hören
Die Ukraine soll die westlichen Waffen auch für Angriffe auf russisches Gebiet verwenden dürfen, findet Dagens Nyheter:
„Politische Kräfte in vielen europäischen Ländern - in der Praxis Putins nützliche Idioten - sabotieren die Hilfe aus dem Westen. Da ist von 'Kriegsmüdigkeit' die Rede, obgleich allein die Ukrainer dem Krieg tatsächlich ausgesetzt sind. Da geht es um 'Friedensverhandlungen', obgleich Verhandeln immer beinhaltet, dass man etwas aufgeben muss - und die Ukraine soll nicht gezwungen sein, auch nur einen Quadratmeter an Putin abzutreten. Es gibt nur einen angemessenen Bescheid an Wolodymyr Selenskyj: Wenden Sie die Waffen dort an, wo sie am dringendsten gebraucht werden, um den Krieg zu gewinnen und Putin zu stoppen.“
Dann wenigstens mehr Waffen
Es braucht mehr Druck auf den Kreml, fordert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Jetzt geht es nicht mehr um eine Kampfkraftsteigerung der Ukraine auf ihrem Staatsgebiet, sondern um den Beschuss russischen Territoriums mit westlichen Waffen. Ein Kriegseintritt wäre das nicht, wie Putin behauptet, aber es könnte seine Bereitschaft zu Gegenmaßnahmen erhöhen. Letztlich steht der Westen immer wieder vor derselben Erkenntnis. Ohne Risiko und Kosten ist der Ukraine nicht beizustehen. ... Ist dem Westen das Risiko zu hoch, dann sollte er der Ukraine wenigstens mehr Waffen und Munition liefern, denn ohne größeren Druck wird man Russland nicht an den Verhandlungstisch bekommen.“
Russland darf nicht siegen
Putin wird noch viel gefährlicher sein als jetzt, sollte er den Krieg in der Ukraine gewinnen, schreibt Exil-Politiker und Videoblogger Maxim Katz auf Echo:
„Der Krieg breitet sich nicht über Europa aus oder greift auf Nato-Länder oder Nordkasachstan über, nur weil die Ukraine durchhält und Putin zwingt, alles, was er hat, für die Einnahme eines weiteren Dorfes auszugeben. ... Wenn die Ukraine an Ressourcenmangel und Rüstungsbeschränkungen zerbricht, wird Putin zu einem Diktator mit einer Armee von Millionen kampferprobter Soldaten, die etwas zu tun brauchen. ... Die westlichen Staats- und Regierungschefs sind sich darüber im Klaren, dass es keine größere Bedrohung gibt, als wenn Putin etwas bekommt, das er als Sieg ausgeben kann.“
Auf eine bedrohliche Koalition reagieren
Die Lieferung iranischer Raketen an Russland verändert die Lage, so La Croix:
„Die militärische Unterstützung des Iran für Russland, der die Nordkoreas ergänzt, könnte die Wahrnehmung des Konflikts ändern. Der Ukraine-Krieg ist nicht mehr rein europäisch. Russland bildet Schritt für Schritt eine Koalition - in die Moskau gern auch Peking hineinholen möchte, das ihm bislang Militärhilfe verweigert -, deren Mitglieder das erklärte Ziel verfolgen, durch aggressive Mittel ihr Umfeld sowie die Grundregeln des internationalen Zusammenlebens zu destabilisieren. So weitet sich der Konflikt über seine Grenzen hinaus aus. Das muss den Westen dazu veranlassen, die Risiken, die von der russischen Aggression ausgehen, und ihre Unterstützungspolitik für die Ukraine neu zu bewerten – einschließlich der Festlegung roter Linien.“
Westen handelt reaktiv statt proaktiv
Politologe Wolodymyr Fessenko analysiert in NV:
„Die USA und unsere anderen westlichen Partner müssen nun auf die Lieferung ballistischer Raketen aus dem Iran an Russland antworten. Das ist das Handlungsmuster unserer westlichen Partner in diesem Krieg. ... Sie agieren in der Regel nicht proaktiv, sondern sie reagieren auf Eskalationen seitens Russlands. Das ist meiner Meinung nach nicht die beste Strategie, aber sie erfüllt immerhin die Mindestaufgabe, nämlich die Aufrechterhaltung der relativen Kampffähigkeit der Ukraine.“
Anmaßende Beschränkungen sofort aufheben
Eindeutig positioniert sich The Spectator:
„Die Angst vor einer nuklearen Eskalation ist eine Chimäre, die von westlichen Politikern fälschlicherweise wirklich geglaubt wird oder als bequeme Ausrede für Untätigkeit dient. ... Die Ukraine steht vor einer existenziellen Bedrohung. Wir wissen, sollte Wladimir Putin diesen Krieg gewinnen, wird die Ukraine als Staat, als Nation und als Volk ausgelöscht. ... Es ist ungeheuerlich, dass wir uns anmaßen, der Ukraine vorzuschreiben, wie sie einen Überlebenskrieg führen soll. Unsere Freunde in Kyjiw bitten uns ausdrücklich um etwas, das wir problemlos geben können. Die Beschränkungen gehören aufgehoben - und zwar sofort.“
Vorsicht ist nicht Feigheit, sondern Pflicht
Der Tages-Anzeiger gibt zu bedenken:
„Einerseits hat Russland trotz aller Warnungen vor einer Eskalation bisher jede Steigerung bei Quantität und Qualität der vom Westen gelieferten Waffen hingenommen. Die Ukraine kämpft inzwischen mit Jets, Panzern, Artilleriegeschützen und Granaten, die allesamt aus Nato-Ländern stammen. Andererseits ist das Ausbleiben einer Eskalation in der Vergangenheit eben keine Garantie für das Ausbleiben einer Eskalation in der Zukunft. Es ist keine Dummheit oder Feigheit, sondern geradezu ihre Aufgabe, wenn westliche Politiker sich Gedanken darüber machen, wie sich verhindern lässt, dass aus dem Krieg in der Ukraine der dritte Weltkrieg wird.“
Italien empfänglich für Kreml-Propaganda
Pina Picierno, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments, beklagt in La Repubblica die Haltung Italiens:
„Europa, das in der Lage war, geschlossen auf die massive Aggression Russlands gegen die Ukraine zu reagieren, und das sich bewusst ist, dass auch für unsere Schicksale sehr viel auf dem Spiel steht, unterstützt weiterhin nachdrücklich den Widerstand des ukrainischen Volkes. Dies ist in unserem Land nicht der Fall, wo – begünstigt durch eine sehr starke russische Propaganda – Zweifel an der Tagesordnung sind. … Die Verweigerung der Genehmigung für den Einsatz italienischer Waffen auf russischem Hoheitsgebiet bedeutet eine entgegenkommende Botschaft an den Kriegsverbrecher Wladimir Putin und seine Regierung. Ich glaube, dass die Positionierung, die sich in der italienischen Regierung und in meiner Partei, der PD, abzeichnet, ein Fehler ist.“
Im Gegenzug ein konkreter Plan
Der in Moskau ansässige Sender Radio Kommersant FM sieht eine Verbindung zwischen der Freigabe der westlichen Waffen und Signalen aus Kyjiw für Verhandlungsbereitschaft:
„Selenskyj schlägt derzeit vor, auf das bislang übliche Wort 'friedlich' oder 'Friedensformel' zu verzichten und stattdessen die Formulierung 'Siegesplan' zu verwenden. ... Was hat das mit den westlichen Raketen und der Erlaubnis, sie tief in russisches Territorium zu schießen, zu tun? Anscheinend ist das ein Paket: Wir geben Ihnen die Freigabe und Sie uns alternativ einen klaren Friedensplan. Sie können den 'Siegesplan' nennen oder wie auch immer, aber wir (die Alliierten) wollen wissen, was Sie (die Ukraine) tatsächlich erreichen und wie Sie weiter vorgehen wollen. Die Grenzen von 1991 erscheinen heute utopisch. Das heißt, es gilt etwas abzutreten.“