Georgien: Tausende protestieren gegen Wahlergebnis
Nachdem am Montagabend in Tiflis zehntausende Menschen gegen das umstrittene Ergebnis der Wahl zum georgischen Parlament demonstriert haben, soll nun ein Teil der Stimmen neu ausgezählt werden. Die Wahlkommission hatte die national-konservative Regierungspartei Georgischer Traum mit 54 Prozent offiziell zum Sieger erklärt, die Opposition erhebt jedoch Vorwürfe der Wahlmanipulation. Kommentatoren fragen sich, wie es nun weitergeht.
Ein Land am Scheideweg
La Stampa analysiert:
„Georgier, die gegen Wahlfälschungen auf die Straße gehen, haben zwei Möglichkeiten: Sie können wie die Belarusen im Jahr 2020 zerschlagen werden oder Neuwahlen erreichen wie durch die Orangene Revolution im Jahr 2004, die die Loslösung der Ukraine vom russischen System markierte. ... Dessen Hauptbestandteil ist die Unveränderlichkeit und Unantastbarkeit der Macht in einer klientelistischen Oligarchie, die die Bürger zu Untertanen macht. ... Die Georgier auf der Straße befürchten, dass [der Gründer der Partei Georgischer Traum] Iwanischwili bereit ist, seinen Verbleib an der Macht gegen die europäische Perspektive einzutauschen und sich für einen Autoritarismus zu entscheiden, der Tiflis unweigerlich in die Umlaufbahn Putins bringen würde.“
Alles läuft weiter wie bisher
In einem von Echo übernommenen Telegram-Beitrag erläutert der Chefredakteur des Exil-TV-Senders Doschd, Tichon Dsjadko:
„Die vergangenen Wahlen in Georgien sind Anschauungsmaterial für jede autoritäre Regierung: wie man Wahlen richtig durchführt, um die Opponenten zu demoralisieren und sich ein solides Ergebnis zu sichern. ... Ohne sichtbare Verstöße, die man in oppositionellen und unabhängigen Medien darlegen könnte, hat die herrschende Partei erklärt, dass sie die Mehrheit bekommen hat und weiter machen wird wie bisher. ... Dabei kommt nicht der Eindruck auf, dass die georgische Regierung den 'prorussischen' Kurs scharf anziehen wird. Alles wird ungefähr genauso laufen wie vor den Wahlen – den Wunsch, auf mehreren Stühlen gleichzeitig zu verharren, hat niemand aufgekündigt.“
Ausgesprochen zynisch
Der ungarische Ministerpräsident und derzeitige EU-Ratspräsident Viktor Orbán handelt mit seinem Besuch Georgiens und seiner Gratulation zum Wahlergebnis ganz im Sinne Russlands, meint Magyar Hang:
„Orbáns eilige Anreise und sein Facebook-Kommentar darüber, dass Georgien eigentlich nur 'ein konservatives, christliches und pro-europäisches Land' sei, sind besonders zynisch. ... Kein Wunder, dass ein Kremlsprecher laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur die georgische Frage damit abtun konnte, dass Moskau im Gegensatz zu vielen europäischen Organisationen (zum Beispiel Wahlbeobachtern) nicht dabei mitreden wolle, was in Tiflis passiert.“
Vage Mahnungen reichen nicht
The Daily Telegraph missbilligt die Passivität des Westens:
„Der Westen wirkte wieder einmal nur wie ein hilfloser Zuschauer. US-Außenminister Antony Blinken verurteilte am Tag der Abstimmung lediglich vage 'Verstöße gegen internationale Normen' und leitete keine Strafmaßnahmen gegen den Georgischen Traum ein. Die EU forderte eine Untersuchung der 'Unregelmäßigkeiten' bei den Wahlen in Georgien, während ihr derzeit amtierender Ratspräsident, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, auf eigene Initiative nach Tiflis reiste, um dem Georgischer Traum zu seinem Triumph zu gratulieren. ... Diese Passivität ist eine tragische Fortsetzung der Politik des Westens gegenüber Georgien.“
Spiel mit der Angst vor Russland
Politologe Abbas Galliamow führt auf Facebook einen ausschlaggebenden Grund für den Erfolg des Georgischen Traums aus:
„'Nein zum Krieg, wähle den Frieden' – unter dieser Losung führte die Partei der georgischen Putinversteher ihre Kampagne. Wie im Falle der letzten Wahlen in Ungarn nutzen die prorussischen Kräfte im Kaukasus die Angst des Bürgers vor Mord und Totschlag nach dem Motto: Wer Putin kritisiert, zieht euch in den Krieg mit ihm, deshalb stimmt besser für uns – und wir werden uns schon irgendwie mit Moskau einigen. Der Erfolg dieser Strategie sagt nichts aus über die Beliebtheit Putins und seiner Politik. Er spricht ausschließlich von dem Wunsch der Menschen, eine Konfrontation mit Russland zu verhindern.“
Zeit, erwachsen zu werden
Die demokratische Opposition in Georgien kann nur dann gewinnen, wenn sie auf Einflussnahme innerhalb des Systems setzt, schreibt Politik-Stratege Ruslan Rochow auf Facebook:
„Ja, der Georgische Traum hat systematisch alle verbotenen Techniken angewandt, aber die Opposition war nicht in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen. Leider ist die einzige Option, die der Opposition nun bleibt, eine Revolution. Die wird es unter diesen Umständen aber nicht geben. Denn Georgien hat Russland an seiner Grenze. ... Kinder, Teenager und Jugendliche rebellieren, Erwachsene aber üben systemischen Einfluss aus! Es ist an der Zeit, erwachsen zu werden und damit zu beginnen, politischen Einfluss auszuüben. Andernfalls werden pro-russische Kräfte und Autokraten gewinnen.“
Orbáns Verrat
Ungarns Regierungschef reist heute nach Georgien, um eine anti-europäische Entwicklung zu feiern, empört sich Corriere della Sera:
„Orbán ist auch der turnusmäßige Präsident der EU, und das macht seine Geste, die den Feinden Europas Beifall spendet und nur mit dem Wort Verrat beschrieben werden kann, äußerst ernst. Verrat an der Union, ihren Werten und den Bündnissen, die ihre Geschicke binden. Mit seinem Besuch in Tiflis hat Orbán endgültig die Maske fallen lassen: Zu der Schande der illiberalen Demokratie, die er in seinem Land geschaffen hat, fügt er nun den Spott einer offenen Herausforderung für das internationale Ansehen Europas hinzu. Er ist ein Freund von Putin und seinen Freunden. Die europäischen Länder können nicht länger tatenlos zusehen.“
Europäer müssen sich engagieren
Die EU muss sich für Moldau und Georgien stark machen, fordern Experten für europäische und geopolitische Angelegenheiten in einem Gastbeitrag in La Libre Belgique:
„Die Europäer müssen ihren Status als engagierter Partner für die Region endgültig festigen und an die seit Februar 2022 unternommenen Anstrengungen anknüpfen. Eines der besten Einflussmittel der EU ist die Europäische Politische Gemeinschaft. … Das nächste Treffen findet bei Viktor Orbán in Budapest statt. ... Eine echte Prüfung für den Zusammenhalt der 27 EU-Staaten, die im Falle von Wahlbetrug und Anfechtungen in Moldau und Georgien geeint auftreten müssen. Denn ohne eine kurz- und mittelfristige europäische Führung und angesichts des Risikos eines Rückzugs der USA werden Russland und China weiterhin in diese Ländern vordringen.“
EU steckt in einer Zwickmühle
Die Oppositionswähler werden möglicherweise doppelt bestraft, wenn es nun zu heftigen Auseinandersetzungen kommen sollte, befürchtet die taz:
„Denn die Brutalität von Polizei und Sicherheitskräften bei ihren Einsätzen gegen Demonstrant*innen ist hinlänglich bekannt. Auch die EU steckt in einem Dilemma. Schon jetzt liegt der Beitrittsprozess auf Eis. Nach Lage der Dinge dürfte das erst einmal so bleiben, will Brüssel sein Gesicht wahren. Schlimmer noch: Weitere Sanktionen stehen im Raum, wie die Abschaffung der Visafreiheit. Auch wenn dieser Schritt aus EU-Perspektive geboten scheint, würde vor allem die junge Generation nach den Wahlen ein zweites Mal bestraft. Kann man das ernsthaft wollen? Die Antwort lautet eindeutig: Nein!“