Wohin führen die Massenproteste in Serbien?

Mehr als 100.000 Demonstrierende haben am Samstag in Belgrad gegen die Korruption unter Präsident Aleksandar Vučić protestiert. Beobachter sprechen von der größten Kundgebung seit dem Sturz von Slobodan Milošević vor 25 Jahren. Auslöser der seit Monaten anhaltenden Unruhen war ein tödlicher Unfall in Novi Sad, für den Baupfusch und Vetternwirtschaft verantwortlich gemacht werden. Europas Presse analysiert die Lage.

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Népszava (HU) /

Ein Land erwacht aus der Apathie

Népszava sieht Zeichen eines demokratischen Neuanfangs:

„Viele Belgrader haben die jungen Leute mit Tränen und Euphorie empfangen. Wie die Mutter eines Opfers der Tragödie am Bahnhof von Novi Sad im vergangenen November sagte, haben die jungen Leute Serbien mit ihrer wunderbarer Leistung geeint. Das ist zwar noch nicht ganz wahr, denn viele Rentner sind von den Regierungsmedien so infiziert, dass sie lieber ihre eigenen Enkel verleugnen würden als Vučić, aber der Großteil der Gesellschaft ist aufgewacht und die langjährige Apathie ist zu Ende. ... Den jungen Demonstranten könnte vielleicht tatsächlich der Aufbau einer gerechten, demokratischen Gesellschaft gelingen.“

Dnevnik (SI) /

Die Angst vor Vučić ist verflogen

Der Präsident ist mit seinem Latein am Ende, schreibt Dnevnik:

„Die Angst vor Vučić und seiner SNS, in der eine Gruppe von Menschen angeblich mit Blut geschworen hat, ihren Präsidenten bis zum bitteren Ende zu schützen, ist in der serbischen Gesellschaft verflogen. … Angesichts der protestierenden Studenten, denen nicht nur daran gelegen ist, dass das Land funktioniert und nicht von Klientelismus und Korruption durchsetzt ist, sondern auch, dass es von Menschen mit Integrität geführt wird, kann Vučić nicht länger auf seine Märchen aus dem Handbuch zurückgreifen, wie Autokraten an der Macht bleiben können. Die darin beschriebenen Taktiken, darunter Angstmacherei und Spaltungsversuche, funktionieren einfach nicht mehr.“

Trud (BG) /

Aber was kommt nach ihm?

Die Bulgaren wissen aus eigener Erfahrung, dass ein politischer Umsturz gerade auf dem Balkan noch keine Garantie ist, Korruption und Vetternwirtschaft ein Ende zu setzen, schreibt Trud-Chefredakteur Viktor Blaskow in Trud:

„Bei unseren Massenprotesten im Jahr 2013 hat man uns bewundert. Das Wichtigste ist jedoch, was nach den Protesten passiert. Wir schaffen es nicht, ihre Energie zu kanalisieren und lassen zu, dass irgendwelche inkompetenten Politiker sie ausnutzen, denn wir überwachen nicht, ob sie das Richtige tun. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Proteste sind begrüßenswert, doch sie sind nur die halbe Miete. An den restlichen fünfzig Prozent versagen wir kläglich.“

Vreme (RS) /

Der Ball liegt bei Vučić

Für Vreme sind die jüngsten Proteste eine herbe Niederlage für den Präsidenten:

„Die ganze Zeit benimmt sich Vučić gehässig und provozierend, während er versucht, Feuer mit Benzin zu löschen. Über eine Übergangsregierung oder eine Expertenregierung – die einzige Möglichkeit, die Krise zu beenden – sagte er wiederholt, es gäbe sie nur über seine Leiche. Niemand möchte seinen Tod. Im Gegenteil, die Bürger sagen, man möchte friedliche Veränderungen, beziehungsweise faire Wahlen. ... Was nun? Sportlich ausgedrückt liegt der Ball nun bei Vučić. Der Protest vom 15. März ist eine schwere politische Niederlage für ihn. Kann er sie akzeptieren und so, zumindest teilweise, dazu beitragen, die Gemüter zu beruhigen und den Weg aus der Krise zu beginnen?“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Eine Schule der Demokratie von unten

Die Historikerin Armina Galijaš betrachtet die Proteste in der Neuen Zürcher Zeitung als gesellschaftliches Experiment:

„Die Transparente der Protestler zaubern oft ein Lächeln auf die Gesichter der Zuschauer, und sie brechen Tabus: 'All we need is law', heisst es oder 'Next year in prison', eine Anspielung auf das nationalistische Lied 'Nächstes Jahr in Prizren' (Kosovo). Die Studenten arbeiten an der Reparatur Serbiens und seiner geschundenen Gesellschaft. Sie zeigen den Menschen, dass es auch anders geht. In Serbien hat in den vergangenen vier Monaten ein gesellschaftliches Experiment stattgefunden. Ein kollektiver Lernprozess ist in Gang gekommen. Geprobt wird eine Schule der Demokratie von unten – ein für Hunderttausende junger Menschen prägendes biografisches Erlebnis.“

Telegram (HR) /

Falscher Ansatz der Forderungen

Solange die Proteste vorrangig die Aufklärung des tödlichen Einsturzes eines frisch renovierten Bahnhofdachs fordern, greifen sie zu kurz, kritisiert Telegram:

„Die Studenten haben den Sturz von Aleksandar Vučić nicht ausdrücklich als ihr vorrangiges und ultimatives Ziel definiert. Was strategisch falsch ist. Man kann einen langjährigen Diktator nicht wegen eines einzigen, schwer korrupten Elementes seiner Diktatur stürzen. Man muss ihn als solches stürzen, wenn man ihn denn wirklich stürzen möchte. ... Solange die Studenten nicht klar sagen, dass sie nicht aufhören zu protestieren, bis Vučić stürzt und aus der Politik verschwindet, bleiben die Proteste wie am Samstag lediglich eine machtvolle Demonstration eines wohlwollenden politischen Willens, aber ohne operative Ergebnisse.“

Der Standard (AT) /

Dem Autokraten nicht auf den Leim gehen

Die EU sollte der studentischen Demokratiebewegung beistehen, meint Der Standard:

„Der Autokrat Aleksandar Vučić wird auch das aussitzen, wenn die Studierenden nicht politischere Forderungen stellen – wie etwa eine Übergangsregierung und die Absetzung jener an der Spitze von Justiz und staatlichem Fernsehen, die dafür sorgen, dass die regierende Fortschrittspartei alles unter Kontrolle hält und die Gewaltenteilung erstickt. ... Mit den bisherigen Forderungen kommt man nicht weiter. Auch europäische Regierungen könnten zur Demokratisierung Serbiens beitragen, wenn sie endlich damit aufhören würden, den Manipulationsversuchen des Autokraten auf den Leim zu gehen, und die EU-Gelder für Serbien sperren.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Kein Wunder, dass keine EU-Flaggen zu sehen sind

Die taz kritisiert den fehlenden europäischen Druck auf die Regierung in Belgrad:

„Statt Kritik zu äußern, hofierten europäische Politiker Vučić: Olaf Scholz sicherte sich Lithium für die deutsche Autoindustrie, Emmanuel Macron verkaufte Kampfjets, Ursula von der Leyen lobte Serbiens EU-Kurs, und Markus Söder nahm einen Orden aus Vučićs Hand entgegen. Auch Vučićs Serbische Fortschrittspartei (SNS) bleibt Teil der politischen Familie von CDU und CSU. Angesichts dieses Rückenwinds für das System Vučić überrascht es nicht, dass bei den Protesten keine EU-Flaggen zu sehen sind.“