Auf die Trauer folgt die Angst
Aus Sorge vor neuem islamistischen Terror lässt Präsident François Hollande 10.000 Soldaten in Frankreich mobilisieren. Das Innenministerium verzeichnet indes einen Anstieg antimuslimischer Übergriffe. Das Land muss nun erkennen, wo es selbst für die Entstehung von Terror verantwortlich ist, mahnen Kommentatoren und kritisieren die Doppelmoral westlicher Politiker, die in der arabischen Welt Konflikte anheizen.
Auch westliche Gesellschaft ist voller Gewalt
Die Gedenkveranstaltungen, bei denen europaweit Millionen von Menschen gegen Terror demonstrieren, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die westliche Gesellschaft nicht frei ist von Gewalt und Barbarei, gibt das Wochenmagazin Le Vif/L'Express zu Bedenken: "Soziale Ungerechtigkeiten, Profitgier zu Lasten von Individuen und Völkern, Ausgrenzung oder Gleichgültigkeit im Alltag, Abkapselung - all dies tötet im Stillen, auf 'legale' Weise, ohne Schüsse, fern der Medien. Ist es nicht unsere 'zivilisierte' Gesellschaft, in der die späteren Attentäter aufgewachsen sind? Sind es nicht unsere Gefängnisse, denen wir ausreichende Budgets verweigern und wo die Täter indoktriniert wurden? ... Was wir nicht sehen wollen - und dennoch alle wissen - ist, dass Humor auch unglaublich gewaltsam sein kann. Er kann verletzten, er kann zerstören: Einige nehmen sich das Leben, weil sie lächerlich gemacht wurden. Manche Zeichnungen und Witze sind schlimmer als Gewehre: Die einen töten mit einem Schlag, die anderen langsam und allmählich."
Radikalisierung in Gefängnissen bekämpfen
Frankreich darf auf die terroristischen Attentate nicht nur mit Repressionen und Überwachung wie die USA nach dem 11. September reagieren, mahnt die linksliberale Tageszeitung Le Monde: "Das Ziel muss auch darin bestehen, den Werten treu zu bleiben, die das französische Volk verteidigt hat, als es am 11. Januar auf die Straße gegangen ist: die Werte von Demokratie und Freiheit, auf die es die Terroristen abgezielt hatten. … Der Kampf gegen die Radikalisierung muss eine unserer Prioritäten sein, vor allem in unseren Gefängnissen, die zu viele verstörte junge Kriminelle in fanatisierte und vor nichts zurückschreckende Terroristen verwandeln. Außerdem muss der islamistische Terrorismus auf europäischer Ebene bekämpft werden. ... Die Zusammenarbeit in der EU ist stärker denn je, auch wenn der alte Kontinent seine Verteidigungsbudgets drastisch kürzt und sich nur widerwillig um eine Sicherheits- und Justizzusammenarbeit bemüht. Darauf nun zu verzichten, hieße, die Botschaft des 11. Januars zu überhören."
Außenansicht: Doppelmoral des Westens bei Islamismus
Die Regierungen Europas agieren scheinheilig, wenn sie einerseits den Terror in Paris verurteilen und Meinungsfreiheit einfordern, andererseits repressive Regime unterstützen, kritisiert die ägyptische Tageszeitung Daily News Egypt: "Das 'Andere' im Nahen Osten macht den Westen neugierig. Das Andere ist gut fürs Geschäft, unterhaltsam zu beobachten und taugt zur satirischen Abhandlung. ... Doch wenn es um das geht, was man 'gleich' nennen müsste, wendet man sich lieber ab und bestätigt das Klischee, dass es sich um barbarische Gepflogenheiten in so genannten Dritte-Welt-Ländern handelt. Andererseits überfluten diese 'Barbaren' aus den 'Dritte-Welt-Ländern' nun die sozialen Medien mit Hashtags der Solidarität, damit sie die Schuldgefühle lindern, die sie qua kollektiver Zuschreibung seit dem 11. September empfinden. Das ist zwar edel gedacht, trägt aber kaum dazu bei, jene hochtrabend Redenden zu bremsen, die keine Ahnung davon haben, wie unterdrückerisch und korrupt autokratische Regime agieren, die von westlichen Regierungen aus purem Eigennutz volle Unterstützung erfahren."
Islam bietet Zuflucht für Versager
Das schlechte Image des Islam im Westen ist insofern gerechtfertigt, als dass ihm der aufgeklärte Ansatz häufig noch fehlt, bedauert die liberale Tageszeitung Taraf: "Die Versager der ganzen Welt scheinen sich unter dem Banner des Islam versammelt zu haben. Den hasserfüllten Frustrierten im Westen bietet er einen Zufluchtsort für ihren Zorn. ... Es ist sogar schon soweit gekommen, dass Menschen, die sich nicht in die westliche Gesellschaft integrieren können, den Islam als Alternative wählen, um ihrem Hass Ausdruck zu verleihen. Ob es nun im Koran steht oder nicht, es sieht so aus, als ob diese Religion dazu bestimmt wäre, Terror zu produzieren. ... Das Christentum wurde bereits rational beleuchtet und hinterfragt. ... Man hat es geschafft, zwischen dem gesellschaftlichen Leben und der reinen Lehre zu trennen; ja, man hat sogar auf den Katholizismus Druck ausgeübt, damit sich dieser reformiert. Im Islam ist die Zeit dafür leider noch nicht gekommen."
Radikalisiertes Frankreich wäre Ende der EU
Sollten die Terrorangriffe in Paris die Polarisierung in Frankreich verstärken, hätte dies fatale Folgen für den Rest Europas, warnt die konservative Tageszeitung Financial Times: "Gleitet Frankreich als das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung innerhalb der EU in den politischen Extremismus ab und folgen Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, wird der Rest Europas daraus eine düstere Lehre ziehen. Auf praktischer Ebene würde eine Präsidentschaft von Marine Le Pen nach der nächsten Wahl 2017 vermutlich einen Zusammenbruch der EU nach sich ziehen. Denn es ist kaum vorstellbar, dass Deutschland mit einer rechtsextremen Regierung in Frankreich zusammenarbeiten könnte. Eine zerfallende EU mit einer aufstrebenden extremen Rechten würde ein Europa heraufbeschwören, in dem Nationalismus und ethnisches Sektierertum erneut auf dem Vormarsch sind."
Trauermarsch war Sternstunde der Heuchelei
In vorderster Reihe des Trauermarsches am Sonntag in Paris marschierten auch Politiker, die in ihren Ländern Journalisten inhaftieren lassen und die Meinungsfreiheit massiv einschränken. Das passt nicht zusammen, findet die linksliberale Süddeutsche Zeitung: "In der erste Reihe schritt der türkische Premier Ahmet Davutoğlu. Sein Land sperrt Twitter und Facebook, wenn die Regierung dort schlecht wegkommt. ... In Ägypten sind 18 kritische Reporter in Haft, aber Außenminister Sameh Schukri hat sich bei den Kollegen untergehakt. Große Gesten in Paris auch von Russlands Außenminister Sergej Lawrow, dessen Regierung Blogger einsperrt und die Presse gängelt. Sie wollen alle Charlie sein. Sie sind es aber nicht. Große Momente der Betroffenheit sind eben oft auch Sternstunden der Heuchelei. Würden diese Mächtigen tatsächlich für die Pressefreiheit eintreten - sie hätten in ihren eigenen Ländern alle Hände voll zu tun."