Bestürzung nach Verhaftungen bei Cumhuriyet
In der Türkei sind Anfang der Woche der Chefredakteur und weitere Mitarbeiter der wichtigsten Oppositionszeitung Cumhuriyet festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, die kurdische PKK sowie die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen unterstützt zu haben. Europaweit beobachtet die Presse die Entwicklungen mit großer Sorge.
Erdoğan-Regime demaskiert sich endgültig
Die Festnahmen der Cumhuriyet-Mitarbeiter und des Bürgermeisters von Diyarbakır in den letzten Tagen offenbaren erneut den wahren Kurs des Erdoğan-Regimes, erklärt die Wochenzeitung der armenischen Minderheit Agos:
„Jede Woche eine neue Notverordnung, jede Woche eine neue Verhaftungswelle, jede Woche die Schließung von Zeitungen, Agenturen, Fernsehanstalten und Kulturzeitschriften. Es ist offensichtlich, dass all dies schon längst nichts mehr mit dem Kampf gegen die Putschisten zu tun hat. Dass hier das Fundament eines neuen Regimes gemauert wird, ist nichts Neues, wir sagen das permanent seit dem 7. Juni [2015, an dem die AKP bei den Wahlen ihre Regierungsmehrheit verlor]. Doch die Ereignisse der letzten Woche offenbaren ganz deutlich den Charakter dieses Regimes. Wir sehen Maßnahmen, wie es sie selbst in der Zeit nach dem [Putsch vom] 12. September 1980 nicht gab. ... Ganz klar, wir leben mittlerweile unter Putschbedingungen.“
Beitrittsverhandlungen mit Türkei aussetzen
Nach den Verhaftungen bei Cumhuriyet haben sich die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei erübrigt, erklärt Politiken:
„Die Ereignisse der letzten Wochen machen deutlich, dass die Türkei derzeit nicht die Kopenhagener Kriterien einhält, die Demokratie und Menschenrechte garantieren. Damit erfüllt das Land nicht die Anforderungen an einen EU-Beitrittskandidaten. Das sollte die EU klarstellen und die Beitrittsverhandlungen mit Ankara aussetzen. Gleichzeitig sollte sie aber deutlich machen, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, sobald die Türkei ihren Kurs wieder in Richtung Demokratie ändert. Die Türkei ist jederzeit in Europa und der EU willkommen. Aber nur eine demokratische Türkei - nicht der totalitäre Staat, den Erdoğan gerade errichtet.“
Putschprozesse könnten großen Schaden nehmen
Was die Aufklärung des Putschversuchs betrifft, sind die Festnahmen bei Cumhuriyet eher kontraproduktiv, so die Einschätzung von Kolumnist Lütfü Oflaz in der regierungsnahen Tageszeitung Star:
„Werden die Justizbehörden die Anschuldigungen auf eine Art und Weise juristisch beweisen können, die die Bevölkerung zufriedenstellt? Und wenn nicht, wird dann [der Regierung] nicht vorgeworfen werden, sie würde im Namen des Kampfes gegen Fetö ['Fethullahistische Terrororganisation', so bezeichnet die Regierung die Gülen-Bewegung] und PKK die ganze Opposition zum Schweigen bringen? Würde das nicht vor allem Fetö und PKK nutzen? ... Mehr als jeder andere will ich, dass die wirklichen Putschisten in dem Maße bestraft werden, wie sie es verdienen. Aber die Putschprozesse dürfen nicht vergiftet werden, indem man Täter und Unschuldige in einen Topf wirft. Die Glaubwürdigkeit der Putschprozesse darf nicht untergraben werden. Bei Prozessen wie Ergenekon oder Balyoz schaffte man das nicht; aber bei den Fetö-Putsch-Prozessen muss das gelingen.“
Der Westen wird die Türkei wohl verlieren
Kristeligt Dagblad sieht die Türkei dem Westen entgleiten, und das nicht nur wegen des jüngsten Angriffs auf die Pressefreiheit:
„Die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird zu einem großen und wachsenden Problem für die demokratische Welt. USA und EU konnten lange Jahre glauben, dass sie - selbst wenn die Türkei auf Abwege zu geraten drohte - das Land immer noch an der langen Leine halten und bei Bedarf zurückholen könnten. Aber die neue Annäherung an Russland, der Versuch, sich seinen militärischen Anteil am Kampf um Mossul zu sichern, die erneute Kriegsführung gegen die Kurden und die Unterdrückung der freien Presse und der Opposition zeigen, dass das große Land, das traditionell eine Brücke zwischen Europa und dem Nahen Osten bildete, dabei ist, dem Westen verloren zu gehen. ... Die Verbindung, die Washington und Berlin-Brüssel offiziell immer noch nach Ankara haben, ist sehr brüchig geworden.“
Wie ein Todesurteil für einen alten Freund
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seine autokratische Führungsrolle nun endgültig zementiert, klagt Kolumnistin Alev Scott in der Financial Times:
„Die Nachricht war vor allem ein emotional harter Schlag – härter als alle anderen Nachrichten von der schonungslosen Aushöhlung der Pressefreiheit seit Juli oder wohl auch seit den Gezi-Park-Protesten im Juni 2013. ... Erdoğan ist zweifelsohne beliebt. Seine Partei hat bei der Parlamentswahl im November vergangenen Jahres 49 Prozent der Stimmen gewonnen. Doch eine Regierung auf Basis der Zustimmung des Volkes ohne Herrschaft des Rechts ist Tyrannei. Und eine Herrschaft des Rechts gibt es heute in der Türkei de facto nicht. Ob Erdoğans Beliebtheit anhält, ist unerheblich. Die nun etablierte Machtstruktur wird seine Führungsrolle auf Jahre zementieren. Das drohende Ende von Cumhuriyet fühlt sich an wie ein Todesurteil für einen alten Freund. Montag war der Tag, an dem viele Türken die Hoffnung verloren.“
Die Türkei braucht Cumhuriyet unbedingt
Schwarz sieht nach der Attacke gegen Cumhuriyet Kolumnist Mustafa Akyol und schreibt in Hürriyet Daily News:
„Die Türkei hat sich in den letzten Jahren rapide von den 'Erste-Welt-Freiheitsproblemen' entfernt und sich in eine komplett andere Liga katapultiert. Jedes Mal, wenn ich in den letzten Wochen meinen Twitter-Account öffnete, sah ich eine weitere Reihe von Nachrichten, die mir zeigten, dass wir Türken auf eine wirklich beunruhigende Zukunft zusteuern. Der Angriff auf die Tageszeitung Cumhuriyet war natürlich die aufsehenerregendste unter all diesen Nachrichten. Cumhuriyet ist die älteste Zeitung der Türkei, eine Zitadelle der säkular-kemalistisch-linken Tradition. Ich bin kein großer Fan der Zeitung, aber sie hat einen wichtigen Platz in unserer Gesellschaft und muss unbedingt frei sein. ... Es ist unvermeidlich, dass die Freiheit in so einem politischen Umfeld stark leidet. Die einzig verbleibende Frage ist: Wie tief sinkt das Land noch?“
Absurde Vorwürfe gegen Oppositionsblatt
Diese Vorwürfe sind an den Haaren herbeigezogen, kritisiert die liberale Internetzeitung T24:
„Die ganze Welt weiß, dass die Zeitung Cumhuriyet seit ihrer Gründung 1924 nur auf einer Demokratie verteidigenden, linksliberalen Linie veröffentlicht. Deshalb ist es die Zeitung, die zu Putschzeiten am häufigsten geschlossen wurde. Darum ist es die Zeitung mit den meisten ermordeten Autoren. Deswegen wollte man ihr in den letzten 60, 70 Jahren oft den Geldhahn zudrehen. Doch sie fand immer einen Ausweg. Sie stand mit keiner politischen Regierung in einer wirtschaftlichen Beziehung. Sie ist die verwurzeltste und älteste Platane der türkischen Presselandschaft. ... Den Festgenommenen Hikmet Çetinkaya, Aydın Engin, Güray Öz, Murat Sabuncu, Kadri Gürsel, Musa Kart, Turban Günay und den Stiftungsmanagern Verbrechen im Namen von PKK und FETÖ [Gülen-Bewegung] vorzuwerfen, ist unfassbar. Schlussendlich will man eine weitere oppositionelle Stimme zum Schweigen bringen.“
EU muss Sanktionen gegen Türkei erwägen
Die EU muss über Sanktionen gegen die Türkei nachdenken, fordert das Handelsblatt:
„Die Demontage des Rechtsstaats geht weiter. Die Türkei bewegt sich immer schneller auf eine Diktatur zu. Erdoğan selbst bezeichnete den Umsturzversuch vom 15. Juli als 'Geschenk Allahs', weil der ihm Gelegenheit gebe, die Streitkräfte zu 'säubern'. ... Mit den jüngsten Repressionen gegen kritische Medien und seinen Plänen zur Todesstrafe will Erdoğan offenbar austesten, wie weit er gehen kann. Er vertraut darauf, dass die EU ihn als Partner in der Flüchtlingskrise braucht. Mag sein. Aber das ist kein Freibrief. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe wäre endgültig eine rote Linie überschritten. Es reicht nicht, die ohnehin fast eingeschlafenen Beitrittsverhandlungen auszusetzen oder das Land aus dem Europarat zu werfen. Eine EU, die Sanktionen gegen Russland verhängt, muss den Mut haben, dieses Instrument notfalls auch gegen die Türkei einzusetzen.“
Schon bald auf einer Stufe mit Nordkorea
Was die Pressefreiheit betrifft, herrschen in der Türkei schlimmste Zustände, konstatiert Gazeta Wyborcza:
„Die Arbeit bei der Cumhuriyet ist schon seit geraumer Zeit nicht einfach. Der sogenannte Islamische Staat hat sie wegen ihres linken Profils ins Visier genommen. So wurden einmal bei der Verhaftung von Mitgliedern dieser Organisation Pläne des Redaktionsgebäudes gefunden. Zudem hat Präsident Erdoğan die Journalisten zu persönlichen Feinden erklärt. Denn er erträgt einfach keine Kritik. ... Die Türkei befindet sich auf der Liste von Reporter ohne Grenzen nur auf dem 151. von 180 Plätzen und liegt sogar hinter Russland. Und sie dürfte nun noch weiter zurückfallen, weil diese Auflistung vor dem Putschversuch erstellt worden ist. Damit wird die Türkei im kommenden Jahr wohl auf einem ähnlichen Platz landen wie Nordkorea.“
Verhaftungen waren gerechtfertigt
Die Festnahmen sind nach Ansicht der regierungstreuen Tageszeitung Sabah gerechtfertigt:
„Die Cumhuriyet hat, insbesondere seitdem [Ex-Chefredakteur] Can Dündar dort zu arbeiten begann, ihre alten Besonderheiten verloren. Während die Cumhuriyet als Vertreter klassischer kemalistischer Reflexe eigentlich [die Gülen-Bewegung] FETÖ und die PKK ausgrenzen müsste, übernahm sie deren Unterstützung. ... Dündar und Vorstandsvorsitzender Akın Atalay sind ins Ausland geflohen. Zurückgeblieben sind diejenigen in der Führung, die der PKK und der FETÖ dienten. Gestern sagte Regierungssprecher Numan Kurtulmuş, dass die Ermittlungen gegen Körperschaften gerichtet seien. Es lässt sich erkennen, dass man im Zuge der Ermittlungen die Körperschaft der Cumhuriyet von FETÖ-Elementen und PKK-Unterstützern reinigen will und eine Rückgabe an die Atatürk-Anhänger, also an ihre wahren Eigentümer anstrebt. Das ist nicht nur ein Gewinn für die Cumhuriyet sondern geschieht auch im Namen der Pressefreiheit in der Türkei.“
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