Ist die Moskau-Ankara-Allianz tragfähig?
Russlands Präsident Putin und sein türkischer Amtskollege Erdoğan haben bei einem Treffen in Sankt Petersburg das Zerwürfnis ihrer Länder seit dem Abschuss eines russischen Kampfjets im Herbst für beendet erklärt. Kommentatoren debattieren, ob die beiden ihre Differenzen in der Syrien-Politik überwinden können.
Türkei weitet außenpolitischen Spielraum aus
Ziel Ankaras ist es, in der Weltpolitik wieder mitzureden, analysiert Habertürk:
„Die Annäherung ist das Ergebnis einer pragmatischen, notwendigen und gegenseitigen Interessen dienenden Haltung und bedeutet nicht die Bildung eines alternativen Mächteblocks in der Welt. Trotz aller Beschwerden und allen Grolls scheint die Türkei in der atlantischen Allianz zu verbleiben. Aber es besteht kein Zweifel, dass sie sich ein größeres Manövergelände verschaffen will. Dafür muss sie in Syrien - einem der global wichtigsten Konflikte - wieder ins Spiel kommen. Zu erreichen ist dies, indem sie sich der russischen Position ein bisschen annähert, die Unterstützung oppositioneller Gruppen einschränkt und in der Kampagne gegen den IS eine aktivere Rolle einnimmt.“
Keine falschen Illusionen bitte!
Vor allzu großen Erwartungen an das Bündnis zwischen Moskau und Ankara warnt die russische Tageszeitung Kommersant:
„Die kürzlich in Sankt Petersburg fixierte Versöhnung zwischen Russland und der Türkei sollte keine ungerechtfertigten Hoffnungen und überzogenen Illusionen hervorrufen. Die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau bergen zu viele Probleme und Widersprüche, um von einer 'strategischen Allianz' zu sprechen. Das erste und wichtigste Problem sind die diametral entgegengesetzten Positionen im Syrien-Konflikt. Putin setzt auf Assad, während Erdoğan dessen Absetzung erzwingen will. Daran hat sich nichts geändert. Auch Ankaras Unterstützung für die syrische Opposition, die gerade eine Offensive auf Aleppo führt und von Russlands Luftwaffe bombardiert wird, hat nicht aufgehört. Wir sollten nicht vergessen, dass gerade die Differenzen im Syrien-Konflikt die beispiellose Krise in den bilateralen Beziehungen nach dem Abschuss des russischen Bombers ausgelöst haben. Diese Differenzen sind geblieben.“
Die Emanzipation der Türkei
Am Ende des Jahres wird Erdoğan Geschichte geschrieben haben, glaubt Novi list:
„In welche Richtung wird sich die Türkei innenpolitisch entwickeln? Das interessiert den Westen weniger, vielmehr steht man gebannt vor dem Rätsel, welchen Weg die Türkei außenpolitisch einschlagen wird. Dabei hat Erdoğan alle Trümpfe in der Hand. Er hat die guten Beziehungen zu Russland wiederhergestellt, die mit Israel normalisiert, den Putsch zerschlagen, seine Macht gefestigt und mit seinen gefährlichsten Widersachern, den Gülenisten, abgerechnet. Und so wie es aussieht, wird Erdoğan am Ende des Jahres von sich behaupten können, dass er geschafft hat, was noch keinem türkischen Präsidenten vor ihm gelungen ist: die Türkei von den USA zu emanzipieren.“
Russland kann nicht ohne den Westen
Es scheint nur so, als könnten sich Russland und die Türkei vom Westen unabhängig machen, erklärt Kaleva:
„Es gibt etwas, das die Türkei und Russland jetzt eint: durch die Annäherung bekommen beide gegenüber dem Westen Trümpfe in die Hand. Das Nato-Mitglied Türkei kann versuchen, von der Nato und der EU Zugeständnisse zu erpressen, die befürchten müssen, dass Ankara noch stärker mit Russland fraternisiert. Gleichzeitig kann die Türkei gegenüber der EU mit der Flüchtlingskarte wedeln: Wenn der EU die Zusammenarbeit nicht passt, kann die Türkei die Flüchtlinge weiter nach Griechenland und in andere EU-Länder ziehen lassen. Wegen der Krim und der Ukraine sind Russlands Beziehungen zum Westen verdorben. Letztlich ist die Türkei für Russland jedoch nur ein Ersatzfreund. Langfristig braucht Russland eine tiefere Zusammenarbeit mit dem Westen als bisher, allein schon um seine Wirtschaft zu reformieren.“
Putin ist Meister der Verwandlung
Schon erstaunlich, wie schnell die Eiszeit zwischen Russland und der Türkei beendet wurde, findet Karjalainen:
„Wer hätte noch vor einigen Monaten gedacht, dass sich der russische und der türkische Präsident auf einer Pressekonferenz vertraut und freundschaftlich geben. ... Russland und die Türkei haben aber schnell gemerkt, dass die durch den Abschuss des russischen Kampfjets verursachte kalte Periode für beide Seiten zu teuer ist. ... Wenn die Türkei kein Nato-Mitglied wäre, wären jetzt Beteuerungen von beispielloser und ewiger Freundschaft und Allianz zu hören. Abkara ist aber trotz allem noch abhängig von der Nato und Europa und kann sich nicht ohne weiteres in die Arme Moskaus werfen. Für Putin wiederum gibt es nichts Angenehmeres als die Nato und die EU von innen anzubohren. Die Verhandlungen von Sankt Petersburg sind eine unangenehme Erinnerung, wie schnell die Lage in der heutigen Politik wechselt und wie geschmeidig Putin Veränderungen schafft und sich darin bewegt.“
Auf tönernen Füßen
Die Allianz zwischen Erdoğan und Putin wird nicht von langer Dauer sein, prophezeit der Russlandexperte José Milhazes in der Onlinezeitung Observador:
„Es handelt sich dabei um ein Bündnis, dessen Hauptziel es ist, den Westen zu erpressen. ... Trotz aller Freundschaftserklärungen weiß Putin aber, dass sein türkischer Kollege einer ist, der ihm jederzeit ein Messer in den Rücken stoßen würde, um sein politisches Überleben zu garantieren. Erdoğan seinerseits gibt sich hinsichtlich Putins Außenpolitik auch keinen Illusionen hin. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese 'Allianz' nirgendwo hinführen wird - vor allem, weil zwischen Moskau und Ankara auch noch andere Divergenzen in der Außenpolitik bestehen. Zum Beispiel betrachtet der Kreml die Ausweitung des türkischen Einflusses in Zentralasien nicht unbedingt mit Wohlwollen.“
Präsidenten eint Groll gegen die EU
Möglich, dass auch wirtschaftliche Interessen zur neuen Einigkeit von Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin geführt haben, doch es ist eher eine Emotion, die die beiden verbindet, beobachtet Delo:
„Ein triftigerer Grund, der den 'Sultan vom Bosporus' zu seinem Gang nach Canossa gezwungen und den 'Zaren des Kremls' dazu gebracht hat, trotz aller Verwerfungen diesen zu empfangen, könnte die EU sein. ... Sowohl Putin als auch Erdoğan hegen starken Groll gegen die EU, den Westen, die USA und die Nato. Putin wegen der Ukraine-Krise und wegen des 'unberechtigten' Vordringens der Nato nach Osteuropa. Erdoğan wegen der 'nicht eingehaltenen Versprechen Europas' und des 'Verrats', den die Türkei nach dem unterdrückten Militärputsch von Seiten der EU, als auch der amerikanischen Generäle und der CIA erfahren hat.“
Das neue alte Einvernehmen
Erstaunlich ist, dass der Westen sich über die Eintracht zwischen Moskau und Ankara wundert, konstatiert die Tageszeitung Avvenire:
„Die zweite russisch-türkische Ehe hat strategische Gründe. Beide Länder liegen am Schwarzen Meer, das eines der Zentren der US-amerikanischen Geopolitik geworden ist. Angefangen von der Ukraine, die das Weiße Haus dem Einfluss Moskaus hat entziehen wollen. … Russland und die Türkei sind zu groß und zu stark, um sich mit dem Vasallentum abzufinden, doch sind sie nicht groß und stark genug, um ebenbürtig mit den USA zu rivalisieren. Ist es da nicht normal, dass sie sich zusammentun? … Das Gleiche geschieht im Nahen Osten. In Syrien sollte Putin laut Assad bleiben, nach Erdoğans Wunsch gehen. Jetzt sind beide an einem Kompromiss interessiert. Assad könnte ins Exil nach Moskau gehen und den Platz räumen für einen Nachfolger, der den Nachbarn genehm ist. Aus Zweckmäßigkeit und vor allem aus gemeinsamer geopolitischer Notwendigkeit.“
Beginn einer neuen Weltordnung
Das Treffen zwischen Erdoğan und Putin hat historische Bedeutung, da es die globalen Kräfteverhältnisse neu ordnet, betont die regierungstreue Daily Sabah:
„Wir treten in eine neue und multipolare Welt ein, wo Länder wie die Türkei das Schicksal ihrer Region bestimmen und zum Funktionieren des globalen Systems beitragen werden. Deswegen betont Erdoğan bei jeder Gelegenheit, dass es mehr als fünf [Mächte] gibt. ... Die Verfechter der alten Weltordnung kümmerten sich kaum um Putin und sein Projekt einer Eurasischen Union. Denn eine Eurasische Union, die die Türkei ausschließt, wäre nicht mehr als die Karikatur einer neuen, aber morschen Sowjetunion. Doch jetzt besteht die Möglichkeit eine von der Türkei unterstützte Eurasische Union zu errichten. ... Daher können wir die Ereignisse vom 15. Juli nicht bloß als gewöhnlichen Putschversuch betrachten. Er wurde angeordnet und inszeniert zu einem früheren Datum und hat direkt mit der Wiederannäherung an Russland und Israel zu tun.“
Anlass zur Erleichterung
Nato und EU müssen sich über die Wiederannäherung von Moskau und Ankara keine allzu großen Sorgen machen, glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Zunächst ist festzustellen, dass nicht zuletzt die Nato in höchstem Maße alarmiert war von den Vorfällen im vergangenen Herbst; eine militärische Eskalation schien tatsächlich möglich und musste unbedingt vermieden werden. Dass sich wenigstens diese Wolken verzogen haben, ist Anlass, erleichtert zu sein. Dass der türkische Präsident nun Zuwendung bei Putin sucht, weil er die in Europa nicht zu finden glaubt, ist eher ein Beleg dafür, dass in St. Petersburg keine antiwestliche Allianz von strategischer Tiefe geschmiedet wird, sondern allenfalls ein mit Versöhnungsrhetorik verziertes Zweckbündnis entsteht.“
Türkei und Russland könnten Schule machen
Dem russischen und türkischen Abgleiten in autoritäre Regime könnten weitere Länder folgen, sorgt sich L’Echo:
„Diese Annäherung zwischen der Türkei und Russland könnte andeuten, dass langsam, aber sicher ein neues globales Kräfteverhältnis entsteht, in dem der Westen und seine Werte nur noch einen nachrangigen Platz einnehmen. Europa hat demografische Probleme und macht eine Krise nach der anderen durch. Die Türkei und Russland, zwei militärische Großmächte in wirtschaftlichem Aufschwung, profitieren von dieser Schwäche, um ihr autoritäres Modell auf dem geopolitischen Schachbrett durchzusetzen. Es besteht eine große Gefahr, dass immer mehr Schwellenländer sich ebenfalls für den Autoritarismus und gegen das demokratische Modell entscheiden.“
Griechenland wird endlich wieder wichtig
Eine neue Achse Moskau-Ankara wird die geopolitische Rolle Griechenlands stärken, jubelt To Vima:
„Die gestrige gemeinsame Erklärung von Putin und Erdogan in St. Petersburg schafft eine neue Realität, deren Bedeutung über die Region hinausgeht und ein sehr wichtiges internationales Ereignis geopolitischer Natur ist. Diese Erklärung ist sehr wichtig für Griechenland. ... Dies liegt daran, dass sie Griechenland sehr nah an seine geopolitische Rolle zurückbringt, die es bei der Staatsgründung Anfang des 19. Jahrhunderts hatte: An vorderster Front für den Westen, die Grenze des Westens. Niemand im Westen kann ignorieren, dass die geopolitische Rolle Griechenlands gestärkt wird. ... Wichtig ist, dass Athen selbst es nicht ignoriert. Es muss sofort die Gelegenheit nutzen, um seine Rolle in der Region zu stärken, in enger Zusammenarbeit mit Zypern, Israel und natürlich mit den USA.“
EU ist schuld an Abnabelung der Türkei
Die EU hat den Fehler gemacht, Erdoğan nach dem Putschversuch diplomatisch nicht beizustehen, und ihn somit in die Arme Putins getrieben, meint das Handelsblatt:
„Die Türkei droht dem Westen komplett zu entgleiten. Das Treffen zwischen Erdoğan und Putin ist der erste Schritt dieser Entwicklung. Die beiden werden besiegeln, was ihre Minister bei Arbeitstreffen in den vergangenen Tagen bereits ausgehandelt haben: eine Partnerschaft auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Um Erdoğans Politik wird es heute sicher nicht gehen. Die EU wiederum macht genau diesen Fehler: Sie sieht den Putschversuch primär im Licht des Flüchtlingsabkommens, eines eventuellen EU-Beitritts und der beobachtbaren Demokratiedefizite am Bosporus. ... Aber statt Ankara wie vor einem halben Jahrhundert mit dem Nato-Beitritt an den Westen zu binden, treiben neben Erdoğan selbst auch EU-Politiker mit ihrer diplomatischen Abstinenz in diesen Tagen die schrittweise Abnabelung der Türkei von Europa voran. Putin freut sich.“
Ankara kann gar nicht ohne EU und Nato
Dass sich die Türkei von der EU und der Nato ab- und Russland zuwendet, hält De Volkskrant hingegen für unrealistisch:
„Abgesehen von prosaischen Dingen wie einer Gaspipeline und einem Atomkraftwerk hat der Staatsbesuch für den türkischen Führer vor allem taktische Bedeutung. Er will zeigen, dass er Amerika und Europa nicht braucht. ... Erdoğans Problem: Jeder weiß, dass das nicht stimmt. Das wissen die Amerikaner, die Russen und auch die Türken selbst. Sie kennen ihre Wirtschaftsdaten, fast die Hälfte ihres Handels treiben sie mit Europa, drei Viertel der für die Türkei so notwendigen ausländischen Investitionen kommen aus europäischen Staaten. Sie wissen, dass ihre Sicherheit am Ende von der Nato garantiert wird und nicht vom geopolitischen Zynismus des Kreml. ... Der Fototermin mit dem Händedruck von Putin und Erdoğan wird wohl daher das wichtigste politische Ergebnis dieses Gipfeltreffens bleiben.“
Erdoğan nur ein Bauer im russischen Schachspiel
Erdoğans Russland-Besuch ist mitnichten ein Zeichen seiner Stärke, meint die Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore:
„Die Wahrheit ist, dass sich Erdoğan selbst nach dem Gegenputsch, der ihn zum absoluten Herrscher der Türkei gemacht hat, mit der Tatsache einer völlig unzulänglichen Außenpolitik abfinden muss, in der die Türkei höchstens hoffen kann, eine nützliche Figur im Spiel anderer zu sein. Eine herbe Enttäuschung für denjenigen, der glaubte die Triumphzüge von [den osmanischen Herrschern] Mehmed dem Eroberer oder von Süleyman dem Prächtigen wieder zu beleben. Einziger, doch kein geringer Trost für Erdoğan: Seine Untertanen werden das Desaster kaum 'wertschätzen' können, angesichts des verheerenden Zustands, in dem sich die Pressefreiheit am Bosporus befindet.“
Putin ist der lachende Dritte
Erdoğan will Europa und die USA unter Druck setzen - und Putin lacht sich ins Fäustchen, analysiert Trouw die Entwicklungen:
„Symbolisch ist es für Putin ein Sieg, dass Erdoğan zu ihm kommt, und nicht umgekehrt. Es zeigt, dass der türkische Präsident die Gunst Moskaus braucht. ... Erdoğan muss einen Kniefall machen, um die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland wiederherzustellen. … Die Türkei wird zudem akzeptieren müssen, dass Russland den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad im Sattel hält. ... Auch auf dem Gebiet der Energie profitiert Putin von der aktuellen Schwäche Erdoğans. Wahrscheinlich kündigen die Präsidenten morgen den Neustart von Turkish Stream an, der geplanten Erdgaspipeline zwischen beiden Ländern. … Das zeigt, dass Erdoğan wieder offen ist für ein Projekt, das Brüssel nervös macht. Solange der türkische Führer sich entscheidet, seine westlichen Verbündeten durch eine Annäherung an Russland unter Druck zu setzen, ist Putin der lachende Dritte.“
Sonderweg ohne Westen
Erdoğans Besuch bei Putin bedeutet nicht, dass die beiden sich nun gegen den Westen verbünden wollen, kommentiert Der Tagesspiegel:
„Schwere Differenzen bleiben, nicht nur in Syrien. Als Erben verfeindeter Großreiche sind Türkei und Russland alte Rivalen im Kaukasus. Im Ukraine-Konflikt schlug sich die Türkei in den vergangenen Monaten eindeutig auf die Seite Kiews; zudem beklagt sie eine Unterdrückung der mit Ankara verbündeten Krimtataren. Die mehr als ein halbes Jahrhundert alte Nato-Mitgliedschaft der Türkei steht einem engen Bündnis mit Moskau ebenfalls entgegen. Wahrscheinlicher als eine türkisch-russische Allianz ist eine andere Neuorientierung der Türkei. Seit langem fordern wichtige Erdoğan-Berater, das Land solle sich vom Westen lösen und als unabhängige Regionalmacht eine eigene Außenpolitik betreiben. Diese Stimmen sind mit der anti-westlichen Stimmung nach dem Putschversuch noch lauter geworden. Erdoğans Schimpftiraden gegen Europa und den Westen sowie sein Besuch in Russland könnten Zeichen dafür sein, dass diese Absetzbewegung beginnt.“