Türkei erhält S-400: Triumph für Erdoğan?
Trotz Widerstands der USA und der Androhung von Sanktionen hat die Lieferung russischer S-400-Raketen an das Nato-Mitglied Türkei begonnen. Künftig will die Türkei das Raketenabwehrsystem sogar gemeinsam mit Russland bauen. Der türkische Präsident Erdoğan verfolgt ein klares strategisches Ziel, sind sich Kommentatoren sicher.
Die Türkei ist ein souveränes Land
Mit dem Deal hat die Türkei deutlich gemacht, wie unabhängig sie ist, freut sich die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah:
„Kritiker der S-400-Lieferung an die Türkei müssen begreifen, dass die türkisch-russische Vereinbarung eine Frage der nationalen Souveränität ist. Die Türkei hat bereits ihre Verpflichtung zur Unabhängigkeit demonstriert, indem sie es ablehnte, die S-400-Vereinbarung rückgängig zu machen. Nachdem in der Vergangenheit der Kauf des US-amerikanischen Patriot-Systems scheiterte, beweist die Türkei nun, dass sie ihren Luftraum schützen will. Die Unabhängigkeit der Türkei sollte nicht auf die Probe gestellt werden.“
Erdoğan und Trump nutzen die gleichen Rezepte
Als Imagepflege wertet Le Temps das Waffengeschäft:
„Mit seinen Einkäufen in Moskau will Recep Tayyip Erdoğan nichts anderes erreichen, als Folgendes zu beweisen: Er setzt sich über Regeln hinweg, kämpft allein für die Interessen seines Landes, beziehungsweise das, was er darunter versteht, und zeigt allen, auch seinen Bündnispartnern, seine Unabhängigkeit. Rezepte, die im Übrigen auch US-Präsident Donald Trump fröhlich anwendet. Die türkische Wirtschaft krankt und es ist nicht auszuschließen, dass Erdoğan schließlich doch dem möglichen Druck der USA nachgeben muss. Es sei denn, er tritt infolge der Schwächung bei den Kommunalwahlen in Istanbul die Flucht nach vorne an - auf die Gefahr hin, das Unbehagen im westlichen Lager noch weiter zu verschlimmern.“
Auf dem Weg zur Militär-Großmacht
Der Kauf des russischen Systems ist das Resultat der Bemühungen Erdoğans, sein Land rüstungstechnisch auf eigene Beine zu stellen, analysiert Politologe Wassili Kaschin in Kommersant:
„Diese Politik wurde bereits Anfang der 2000er Jahre intensiviert, nachdem Erdoğan Premier geworden war. Die Türkei folgt zielgerichtet dem Kurs, Rüstungsgroßmacht und selbstständiges militärisches Machtzentrum zu werden. Sie bemüht sich, ihren dank Nato-Mitgliedschaft privilegierten Zugang zu US-amerikanischen und europäischen Technologien zu kombinieren mit der Zusammenarbeit mit unabhängigen Ländern. ... Mit ausländischer Hilfe hat sich die Türkei mit der Reparatur von Importtechnik und auch der Produktion von immer komplexeren Rüstungsgütern vertraut gemacht - und kann jetzt eindeutige Erfolge vorweisen.“
Provokation live im Fernsehen
Die EU darf niemals vergessen, zu welchen politischen Schachzügen die Türkei bereit ist, bekräftigt Ilta-Sanomat:
„Die Fernsehübertragung der Raketenlieferung diente keineswegs nur der Unterhaltung der türkischen Bürger. Vor allem sollte den USA die direkte Botschaft gesendet werden, dass die Türkei selbst entscheidet, wo sie ihre Waffen kauft. Das Raketengeschäft der Türkei sollte auch in Europa registriert werden. Nicht bloß als Erinnerung an Russlands Versuche, Einfluss zu nehmen, sondern auch an das machtpolitische Taktieren der Türkei. Das Vorgehen der Türkei muss berücksichtigt werden, falls irgendwann einmal wieder über die EU-Mitgliedschaft der Türkei debattiert wird.“
Putins Rakete trifft
Der Kauf der S-400 zeugt von einer neuen geopolitischen Realität, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„An den Waffengeschäften um Flugzeuge und Raketen, den zustande gekommenen wie den gescheiterten, lassen sich die Machtverschiebungen im Nahen Osten ablesen. Russland verstärkt seinen Einfluss mehr und mehr, die früher praktisch allein massgeblichen USA haben die Regie zum Teil abgegeben. 2003 feierten die Amerikaner noch mit Triumph den Einmarsch in Bagdad. Heute wird als Spätfolge des Irak-Kriegs der Zusammenhalt der Nato infrage gestellt. Die Türkei mit ihren starken Streitkräften geht zu dem Bündnis auf Distanz. Sieger nach Punkten ist der russische Präsident Putin. Einmal mehr ist es ihm gelungen, den Zusammenhalt des Westens zu unterminieren. Seine Raketen sind noch gar nicht in Stellung gebracht, und schon haben sie ihr Ziel getroffen.“
Revanche für westlichen Druck
Einen politischen Sieg Erdoğans erkennt Radio Kommersant FM:
„Washington macht die ganze Zeit Druck, unterstützt die Kurden in Syrien und liefert Gülen nicht aus, den Ankara für den Ideologen des Putschs von 2016 hält. Europa und Deutschland im Besonderen drängen Erdoğan immerzu ihre Regeln auf - sie erwarten die Garantie der Menschenrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit. Wenn das so ist, dann bleibt ihr eben ohne lukrative Verträge, dann strafen wir euch, indem wir bei den Russen einkaufen, zumal sie gute Systeme zu sehr günstigen Bedingungen anbieten. Doch die S-400 ist nicht die ganze Luftabwehr der Türkei, nur ein Segment. So oder so bleibt das Land im westlichen Orbit - doch es zwingt diesen dazu, mit der Türkei zu rechnen.“
Auf zwei Hochzeiten kann man nicht tanzen
Ihren Schlingerkurs muss die Türkei bald aufgeben, mahnt Le Monde:
„Donald Trump erhebt die Stimme, doch die anderen Mitglieder des Bündnisses scheinen bislang noch unsicher darüber, welche Haltung sie abgesehen von den Bekundungen ihrer 'Besorgnis' einnehmen sollen. Sie hoffen, dass die jüngsten Rückschläge von Erdoğans Partei bei den Kommunalwahlen zu seiner Niederlage bei der nächsten Präsidentschaftswahl - im Jahr 2023 - führen werden. Die Nato-Satzung sieht keine Möglichkeit für den Ausschluss oder die Suspendierung eines Mitgliedstaats vor. Die Türkei war bereits marginalisiert, insbesondere aufgrund der Säuberungen, die nach dem gescheiterten Putsch von 2016 in der Armee vorgenommen wurden. Nun muss sie mit aller Klarsicht die geostrategische Entscheidung treffen, die die S-400-Affäre verlangt. Denn sie kann nicht lange auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.“