Ungarns Notstandsgesetz: Wie sollte die EU reagieren?
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat die EU-Staaten vor unverhältnismäßigen Krisenmaßnahmen gewarnt. Ungarns Parlament hatte Premier Orbán zuvor mit seiner Zustimmung zu einem Notstandsgesetz die zeitlich unbefristete Befugnis gegeben, per Dekret zu regieren. Europas Presse macht sich Sorgen, dass das Modell Schule machen könnte, und fordert Konsequenzen aus Brüssel.
Das darf Brüssel nicht akzeptieren
Jetzt darf die EU nicht länger zuschauen, mahnt die Tageszeitung Die Presse:
„Apologeten des Regimes mögen zwar darauf hinweisen, dass das Parlament in Budapest sehr wohl das demokratische Pouvoir hat, der Regierung Grenzen aufzuzeigen, doch angesichts der Übermacht der Regierungspartei im Plenum ist das ein frommer Wunsch. Wer so argumentiert, muss konsequenterweise auch China für eine lupenreine Demokratie halten, denn dort gibt es schließlich den Volkskongress, der die Aufgabe hat, den regierenden Kommunisten auf die Finger zu schauen. ... Angesichts dieser Entwicklung gehen der EU langsam die Argumente fürs Nichtstun aus. ... Mit einer illiberalen Demokratie in ihrer Mitte konnte die EU mehr schlecht als recht leben. Mit einer illiberalen Autokratie kann sie das nicht mehr.“
Orbán den Geldhahn zudrehen
Brüssel muss jetzt zu radikaleren Maßnahmen als in der Vergangenheit greifen, fordert Sydsvenskan:
„2017 leitete die Kommission ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren - die 'Atombombe' - gegen Polen wegen schwerwiegender Verstöße gegen EU-Werte ein. Sechs Monate später stimmte das Parlament dafür, den gleichen Prozess gegen Ungarn einzuleiten. Hier ist jedoch Einstimmigkeit erforderlich, und die beiden Länder schützen sich gegenseitig mit ihrem Veto. ... Jetzt ist es an der Zeit, finanzielle Beiträge an Ungarn zu drosseln und auf andere Weise die Schrauben anzuziehen. Die EU kann kein Mitgliedsland haben, das die gemeinsamen Werte, die Rechtsstaatlichkeit sowie die individuellen Freiheiten und Rechte nicht respektiert. Ungarn sollte ein Ultimatum gestellt werden: Handle, wie es von einem Mitgliedstaat verlangt wird. Oder verlasse die Union.“
Bitte den Budapest-Warschau-Express stoppen
Polen könnte einen ähnlichen Weg einschlagen wie Ungarn, fürchtet der Politologe Bogdan Góralczyk in Rzeczpospolita:
„Viktor Orbán, der in seiner langen politischen Karriere bewiesen hat, dass er eines anstrebt: die Maximierung von Macht und Geld, hat endlich das bekommen, wovon er träumte. Jetzt kann er per Dekret regieren, alleine und autonom. ... In den 1990er-Jahren wurde in Ungarn der Begriff 'Express aus Warschau' geprägt, da die Ereignisse in Polen denen in Ungarn immer einige Monate voraus waren. ... Wird jetzt der Express aus Budapest in den Warschauer Hauptbahnhof einfahren? Ich hoffe, er kommt nicht vollständig an.“
Beunruhigendes Zeichen
In Tschechien hat der Verteidigungsminister angeregt, den Premier für den Krisenfall ebenfalls mit jeglichen Vollmachten für die Führung des Landes auszustatten. Právo warnt davor, dem Beispiel Ungarns zu folgen:
„In Ungarn regiert seit Montag Premier Orbán mit Dekreten. Da fährt einem ein kalter Schauer über den Rücken. Andrej Babiš sollte sich von den Ereignissen in Budapest nicht inspirieren lassen. ... Es wäre in der Tat beunruhigend, wenn die Regierung den Ausnahmezustand ausnutzen sollte. ... Bislang erleben wir, dass das Parlament - wenn auch nicht mit Begeisterung - die eilig vorbereiteten Beschlüsse der Regierung unterstützt. Und wir alle erinnern uns an das Versprechen des Premiers, die Lage nicht ausnutzen zu wollen, um die eigene Macht zu stärken.“
Notstand bedeutet keine grenzenlose Macht
Trotz des Notstandsgesetzes bleibt die Macht Orbáns begrenzt, entgegnet das regierungsnahe Medium Demokrata der Kritik:
„Dekrete und Regelungen, die dem Grundgesetz widersprechen, können auch in der Notstandsordnung nicht verabschiedet werden. Das Verfassungsgericht funktioniert weiterhin und hat die Möglichkeit, Anordnungen, die es für problematisch hält, zu annullieren. ... Der Notstand darf [gemäß dem neuen Gesetz] nicht länger als unbedingt notwendig andauern und Regelungen, die entweder zur Abwehr der Gefahr nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig sind, dürfen nicht verabschiedet werden. ... Wir kennen Ungarns Opposition zwar bereits, trotzdem ist es verblüffend und traurig, dass sie ihre eigene Frustration und Fidesz-Phobie nicht einmal in den Zeiten der schwierigsten Pandemie seit einem Jahrhundert überwinden kann.“
Parlament nicht mal mehr Kulisse
Das ist der ehrlichste Moment des Orbán-Regimes, ätzt die Wochenzeitung Magyar Hang:
„Das Parlament hat sich auch bisher nicht viel Mühe gegeben, die Regierung zu kontrollieren. Jetzt deklariert die Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordneten explizit, dass sie im System Orbán nicht mal als Kulisse gebraucht wird. Die Regierung weiß weiterhin alles besser als alle anderen, sie braucht keine Beratung von Fachleuten und schon gar keine Vorschläge von der Opposition.“
Orbán kann nicht ohne Brüssel
Die EU-Kommission muss endlich eine Strategie vorlegen, wie mit Ländern wie Ungarn künftig umzugehen ist, mahnt Die Welt:
„Alles, was bisher an Plänen für Disziplinierungsmaßnahmen auf dem Tisch liegt, wirkt letztlich zahnlos. ... Es ist bizarr, wie Orbán in der Corona-Krise immer wieder auf die Hilfen aus China verweist, wie sehr er asiatische Gesellschaften als Vorbilder preist und mit welcher Inbrunst er die EU als Schwächling darstellt. Man mag das für Puszta-Propaganda halten. Aber tragisch daran ist schon, dass Orbáns 'illiberale Demokratie' und der ungarische Wohlfahrtsstaat ohne die EU gar nicht überleben könnten. Für Ungarn wären weder Russland und schon gar nicht China echte politische oder ökonomische Alternativen. Orbáns Machtbasis ist die EU – das sollte ihn von der Leyen endlich spüren lassen.“
Wahlen wird es weiter geben
Die Neue Zürcher Zeitung sieht im Gesetz eher ein Ablenkungsmanöver:
„Das von manchen Kritikern gezeichnete Szenario, wonach ihm die Notstandsregel erlaube, die in zwei Jahren anstehende Parlamentswahl auf unbestimmte Zeit zu verschieben, ist unrealistisch. Selbst Orban wird das nicht wagen, würde Ungarn damit doch endgültig untragbar in der EU. Das Coronavirus birgt für die Regierung allerdings ein erhebliches Risiko. Das Gesundheitswesen ist in einem katastrophalen Zustand. ... Während Orban Millionen von Forint in stupide Propaganda steckte, mussten Patienten ungarischer Spitäler Toilettenpapier oder Nahrungsmittel selbst mitbringen. ... Da hilft es, die Opposition wegen ihrer Ablehnung des Notstandsregimes pauschal als 'Verbündete des Virus' zu diffamieren und die Verbreitung von 'Falschinformationen' mit langen Gefängnisstrafen zu belegen.“
Ein rutschiger Abhang
Weder in Ungarn noch im restlichen Europa darf die Pandemie genutzt werden, um die Demokratie abzuschaffen, stellt El Mundo klar:
„Die EU darf nicht wegschauen und sich auf sterile Drohungen beschränken, die bei Orbán nichts bewirken. Die Rolle Brüssels wird bereits wegen des Krisenmanagements in der Corona-Pandemie angezweifelt. Wenn nun ein EU-Mitglied sich auch noch der liberalen Demokratie entledigt, könnte das europäische Projekt endgültig platzen. Ungarn ist ein Extremfall. Aber in ganz Europa sehen wir, wie der Kampf gegen das Virus den Regierungen den Vorwand liefert - und Spanien ist da keine Ausnahme -, sich der nötigen Kontrolle und der Verantwortung vor dem Parlament zu entziehen. Dieser rutschige Abhang führt zum Autoritarismus.“