Rückkehr zum alten Leben oder neue Normalität?
Weltweit lockern nun viele Staaten Schritt für Schritt den Lockdown und fragen sich, was der beste Weg zurück in die Normalität ist. Doch das Weitermachen mit dem gewohnten Leben ist offenbar nicht für alle erstrebenswert.
Lockdown war für Menschenfeinde das Paradies
Der Selbstisolierung wegen Covid-19 kam vielen sehr gelegen, mutmaßt Kolumnist David Aaronovitch in The Times:
„Der Lockdown war der Traum aller Menschenfeinde - und von diesen gibt es viele. Nicht wenige von uns gehen durchs Leben und befinden sich dabei dauerhaft in einem Zustand kaum unterdrückter Gereiztheit wegen anderer Menschen. ... Nicht jeder wollte unbedingt seine betagte Mutter im Pflegeheim besuchen. ... Nicht jeder ist froh, dass er keine Ausrede mehr hat, um den Kneipenbesuchen mit einem lauten Freund zu entgehen. Der Dramatiker und Drehbuchautor Tom Stoppard beschrieb den Lockdown als das Leben, das er sich immer gewünscht habe: 'Soziale Distanzierung ohne soziale Missbilligung'. Keine Veranstaltungen mehr, für die man sich herausputzen und die man vorbereiten musste. Keine Begegnungen mehr mit anderen, auf die man stets gefasst sein musste.“
Zurück in die Armut
Rzeczpospolita sieht schwarz für die Zeit nach der Pandemie:
„Der Wohlstand praktisch aller Unternehmen hängt von der Nachfrage der Verbraucher ab, und diese ist durch Corona nicht nur in Polen, sondern weltweit gelähmt worden. Wir müssen mit weiteren Entlassungen, mehr Arbeitslosigkeit und Problemen bei der Suche nach neuen Arbeitsplätzen rechnen. ... In einem optimistischen Szenario wird die Arbeitslosenquote [in Polen] auf zehn Prozent steigen, dann wird es etwa eine Million mehr Arbeitslose geben als derzeit. Tritt das schwärzeste Szenario ein, kann die Arbeitslosigkeit 20 Prozent überschreiten. Das Ausmaß der Armut in Polen steigt dann auf ein Niveau, das wir aus den ersten Jahren nach dem Fall des Kommunismus kennen.“
Ein steiniger Weg
Die Rückkehr zur Normalität wird noch lange dauern, befürchtet Turun Sanomat:
„Trotz der schrittweisen Lockerung ist es noch ein sehr langer Weg bis zu den Zuständen vor Corona. Möglich, dass es nie mehr so wird wie früher. Ein Teil der Beschränkungen und insbesondere der veränderten Konsumgewohnheiten sind langfristig oder von Dauer. … Die Hoffnung auf eine schnellere Öffnung der Wirtschaft ist verständlich, aber verfrüht. Die schrittweise Wiederaufnahme des Betriebs in Restaurants, gekoppelt an eine Begrenzung der Gästezahl, die Einhaltung von Hygienenormen und Abständen sowie eine Regelung der Öffnungszeiten, ist eine Herausforderung. Bis zur Erreichung der Rentabilität wird es dauern.“
Kontaktlos ist schon lange Trend
Das Virus setzt nur eine Entwicklung fort, die längst im Gange war, erklärt Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Gastbeitrag in Corriere della Sera:
„Ich glaube keine halbe Sekunde, dass 'nichts mehr so sein wird wie früher'. ... Im Gegenteil, das Hauptresultat des Coronavirus wird eine Beschleunigung bestimmter, längst begonnener Veränderungen sein. Seit einigen Jahren haben alle technologischen Entwicklungen, seien sie klein (Video auf Abruf, kontaktlose Bezahlung) oder groß (Telearbeit, Einkaufen im Internet, soziale Medien), die Reduzierung der materiellen und vor allem der menschlichen Kontakte zum Ziel. Die Coronavirus-Epidemie bietet diesem grundsätzlichen Trend eine wunderbare Daseinsberechtigung: eine gewisse Obsoleszenz der menschlichen Beziehungen.“
Wenn das Virus tot ist, lebt die Pandemie weiter
Die Zeit nach der Corona-Krise malt der Journalist und Künstler Igor Vidmar auf dem Onlineportal RTV Slovenija in düsteren Farben:
„Die neue Normalität wird für die entlassenen Arbeiter, die Selbstständigen in der Kultur, kleine Unternehmer, Transportunternehmen und Rentner ganz anders sein. ... Im reichen Ljubljana berichtet man bereits über Hunger! Die soziale Krise wird vielleicht schlimmer als die Krise wegen des Virus. Doch die regierenden politischen und die wirtschaftlichen Kräfte, auf der lokalen und der europäischen Ebene, interessieren sich nicht für grundlegende Reformen. Der neoliberale Kapitalismus ist unantastbar! Das Virus wird vielleicht vorbei sein, die Pandemien zerstörerischen Wachstums, der Ausbeutung und Ungleichheit nicht.“
Zurück zu Lebensfreude und Geselligkeit
Kolumnistin Aylin Öney Tan von Hürriyet Daily News wünscht sich die alte Normalität zurück:
„Bei Frühlingsfestivals geht es unter anderem auch um Verkuppelungen. Heranwachsende Jungen und Mädchen zusammenzubringen, in der Hoffnung, dass diese ihre eigenen Familien gründen, Babys bekommen, um neu zu beginnen, um den Lebenszyklus zu erneuern, um diesen unseren Globus weiterdrehen zu lassen. ... Das ist die treibende Kraft, die uns weitermachen und hoffen lässt, dass wir zur Normalität zurückkehren werden. Doch müssen wir denn zur Normalität zurück? Meiner Meinung nach, falls zur Normalität zurückzukehren bedeutet, wieder Frühlingsfestivals zu feiern, ist die Antwort ein definitives Ja. Was die Menschheit braucht, sind Lebensfreude und Geselligkeit.“