Die Fleischindustrie: Ein System der Ausbeutung
Im Juni wurde bekannt, dass sich in Deutschlands größtem Schlachtbetrieb Tönnies über 1.500 zumeist osteuropäische Arbeitnehmer mit dem Coronavirus infiziert hatten. Bereits im Mai war ein Schlachtbetrieb nach einem Corona-Ausbruch geschlossen worden. Kommentatoren beleuchten die fragwürdige Arbeitssituation osteuropäischer Arbeitskräfte in Deutschland und die Mechanismen dahinter.
Warum schweigt Rumänien?
Rund 1.000 der infizierten Tönnies-Arbeiter sollen aus Rumänien kommen. Der EU-Parlamentarier und frühere Premier Mihai Tudose erwartet in Digi 24 mehr Einsatz der rumänischen Regierung für die Landsleute:
„Von der Art und Weise, wie die Saisonarbeiter am Flughafen von Cluj unter demütigenden und gesundheitsgefährlichen Bedingungen nach Deutschland aufgebrochen sind, bis hin zur Unterbringung und der Arbeit selbst, wo weder Sozialrechte eingehalten werden noch der Mindestlohn oder grundlegende Gesundheitstandards - immer war die Regierung passiv, und ihre Aktionen nur Schönfärberei. ... Sicher, dieses Ausmaß überfordert die Behörden eines einzelnen Landes. Daher sollten die betroffenen Länder umgehend zusammenarbeiten und Maßnahmen auf Europa-Ebene koordinieren, um angemessene Arbeitsbedingungen für jene Bürger Europas zu schaffen, die sich in anderen EU-Ländern verdingen.“
Ungerechtes Subunternehmer-Modell
Die Juristin Alina Dobre klagt in Contributors das System hinter den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen an:
„Dieser Skandal hat die Rolle der Arbeitsvermittler in den Fokus gerückt, aber dennoch positioniert sich niemand in Europa gegen diese Subunternehmen, die die Lohnrechte der Arbeiter zerstören. ... Sie drücken die Gehälter unter die Mindeststandards, und das passiert in fast allen Sektoren, vor allem in Deutschland, von Saisonkräften in der Landwirtschaft bis hin zu IT-Ingenieuren. Diese Firmen verdienen fürstlich für eine nicht geleistete Arbeit, auf dem Rücken jener, die diese Arbeit in Wirklichkeit verrichten. Deutsche Unternehmen einschließlich ihrer ausländischen Subunternehmer bevorzugen dieses Modell, weil sie so ihre Arbeitnehmer indirekt 'einstellen' und dabei ihre Kosten senken und ihre Gewinne steigern können.“
Das Gesetz der Massengesellschaft
Auch in Norditalien sind in fünf fleischverarbeitenden Großbetrieben mehrere Corona-Fälle aufgetaucht. Für La Stampa Anlass, an das Tierleid zu erinnern:
„Die Tierfarmen sind Folterstätten, Orte, in denen herzzerbrechende Schreie widerhallen, mit schmutzigen, überfüllten Käfigen und gepeinigten Ferkeln, die von den Müttern fortgetreten und in Gehege getrieben werden. In die Schlachthöfe gehen die Tiere zum Sterben. ... Wer jemals einen dieser Orte betreten hat, wo die Schweine zusammengetrieben werden, der wird das Bild des Schlamms in den Gängen nicht mehr vergessen, durch den Männer mit kniehohen Stiefeln waten, und das Stöhnen, das das Grunzen übertönt, in die Leere ausgestoßene Schmerzensschreie. ... Es ist das Gesetz der Massengesellschaft, die alle ernähren muss.“
Es trifft die Schwächsten im System
Gazeta Wyborcza beschreibt die Arbeitsbedingungen, die eine Ansteckung begünstigen, anschaulich:
„Viele der Infizierten sind Rumänen und Bürger anderer osteuropäischer Länder, die seit Jahren als billige Arbeitskräfte die deutsche Fleischindustrie antreiben. Im Schlachthaus gelten zwar strenge Hygienevorschriften. Aber sie arbeiten in kalten Räumen, und bei niedrigen Temperaturen überlebt das Virus länger. Es ist auch nicht möglich, Abstand zu den Kollegen zu halten. Das Schlimmste ist jedoch, dass die Gastarbeiter nach der Arbeit in ihre Quartiere zurückkehren, wo sie unter bescheidenen Bedingungen in Schlafsälen leben. Es ist schwierig, nicht nur den Abstand, sondern auch die Hygienevorschriften einzuhalten.“
Problem endlich angehen
Die Corona-Krise hat eine seit Langem bestehende Ungerechtigkeit ans Licht gebracht, schreibt Webcafé:
„In den Schlachtunternehmen herrscht die Meinung vor, dass die Schlachtarbeit zu hart und unattraktiv für Deutsche sei, was die Schlachter dazu zwinge, Rumänen, Bulgaren und Polen anzuheuern, die sich über die Jahre als geduldige, fleißige und unproblematische Arbeitskräfte erwiesen haben. … Nun bringen die Coronavirus-Infektionen das Thema erneut ans Tageslicht. Deutschland hat trotz aller guten Vorsätze aus Berlin nach wie vor ein Problem mit Rassismus und Menschenausbeutung. Wird man nun diesmal etwas dagegen unternehmen, oder sind das billige Fleisch und das Gemüse, das sich 'von selbst pflückt', einfach zu gut, um es auch nach der aktuellen Krise aufzugeben?“