George Floyd: Wie Europa demonstriert
Auch in vielen europäischen Ländern gehen seit der Tötung von George Floyd Menschen auf die Straße. Dabei solidarisieren sich die Kundgebungen nicht nur mit den Protesten in der USA, sondern richten sich auch gegen strukturellen Rassismus im jeweils eigenen Land. In der Presse werden die Demonstrationen unterschiedlich wahrgenommen.
Endlich geteilte Wut
Dass Demonstrierende auf ihren Plakaten ganz unterschiedliche Aspekte thematisieren, ist keine Verwässerung des Protests, findet Le Soir:
„Die jungen Protestler vermischen alles, und das zu Recht: die Sklaverei, die die Grundlage für den amerikanischen Wohlstand schuf; die Kolonisierung, die das Erstarken der europäischen Mächte beschleunigte; das fortbestehende Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen Nord und Süd, das das Streben nach einem besseren Leben und die Migrationsströme beflügelt. Die vor dem Justizpalast [in Brüssel] geschwenkten Transparente haben all dies in Erinnerung gerufen: Revolte und Hoffnung, endlich geteilte Wut, aber auch den Wunsch, die Geschichte besser zu kennen, denn Amnesie und Unwissenheit sind ebenfalls Nährböden für Rassismus.“
Symbolische Reaktionen lösen keine Probleme
Von der Politik zu fordern, sie müsse jetzt "Solidarität bekunden" und "Stellung beziehen", hilft Benachteiligten nicht, moniert Göteborgs-Posten:
„Die Vorstellung, dass struktureller Rassismus die Lebensbedingungen der Menschen erklären kann, birgt zwei schwerwiegende Probleme. Erstens ist es keineswegs sicher, dass sein Erklärungswert so groß ist, wie viele behaupten. Dies bedeutet aber auch, dass entsprechende Reaktionen nicht greifen oder in symbolischen Handlungen verpuffen. Zweitens: Die Hypothese des strukturellen Rassismus ist mehr als ein Erklärungsmodell. Es ist eine Weltanschauung, in der zwischenmenschliche Kontakte hauptsächlich vom Gegensatzpaar Unterdrücker und Unterdrückter beschrieben werden. ... Das wirkliche Problem ist, dass wirtschaftlich schwache Gruppen den Eindruck haben, dass die Lösung ihrer Probleme davon abhängt, ob Weiße gegen Rassismus ausreichend Stellung beziehen.“
Minneapolis ist mitten in Frankreich
Auch in Frankreich wurde am Wochenende demonstriert. Aus gutem Grund, erklärt Politis:
„Auch Frankreich hat seinen Schandfleck, seine ungestraften Polizisten. ... Es hat seine Skandale wie den um Adama Traoré, der 2016 unter dem Gewicht eines Polizisten aus unseren Reihen starb. … Vier Jahre später fabrizieren neue, etwas obskure Ärzte einen neuen Bericht, der den vorherigen Expertisen widerspricht und behauptet, der 24-Jährige habe eine Herzschwäche gehabt. Es wird einem richtig übel bei dieser Sturheit, eine Polizeilobby zu schützen, die ihrem Minister Angst einflößt. Dann das: Am Montag wurde Gabriel, 14 Jahre, bei einem Polizeieinsatz auf den Boden gedrückt und von einem Polizisten getreten, während seine Kollegen ihn festhielten. Ausgeschlagene Zähne, Kiefer gebrochen und möglicherweise ein Auge verloren. ... Wir sind nicht in Minneapolis, sondern in Bondy im Großraum Paris.“
Unsolidarische Demonstranten
In Stockholm hat die Polizei am Mittwoch eine Solidaritätskundgebung aufgelöst, an der mehrere Tausend Menschen teilgenommen hatten, obgleich wegen Corona derzeit für Versammlungen eine Obergrenze von 50 Teilnehmern gilt. Upsala Nya Tidning findet die Demo unangebracht:
„Menschen in Schweden demonstrieren also gegen amerikanische Polizeigewalt, indem sie das Leben unserer Alten und Kranken aufs Spiel setzen. ... Natürlich ist es wichtig, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen. Doch einigen Demonstranten ging es wohl eher darum, das amerikanische Rassen-Narrativ in einen schwedischen Kontext zu stellen, den es bislang in Schweden aber so nicht gibt. ... Ein Demonstrant trug ein Schild mit der Aufschrift: 'I can’t breathe'. Just dies kann den Alten und Kranken passieren, für die das Coronavirus besonders gefährlich ist.“
Was autoritäre Pyromanen zusätzlich anspornt
In Postimees zeigt Kolumnist Andres Herkel viel Empathie für die Proteste:
„Ich gehöre zu der glücklichen Generation, deren Jugendrebellion in die Zeit des estnischen Unabhängigkeitskampfes fiel. Was damals radikal war, ist heute normal, und ich habe meine Ansichten nicht ändern müssen. Im Gegenteil, Demokratie und Freiheit der Völker sind immer noch wichtige Ideale. ... Leider sehen wir Führer mit spaltender Rhetorik nicht nur in den USA auf der Bühne. Sie können zu Pyromanen werden, von denen man nicht weiß, wann sie das Haus anzünden. ... Sicher ist, dass nichts die autoritären Führer mehr anspornt, die Ideale der Demokratie und der Freiheit zu verhöhnen, als wenn Menschen ihre Freiheit nicht vernünftig nutzen können und Politiker und Polizei überreagieren.“
Made in Britain
Großbritannien hat eine Chance verpasst, schreibt The Guardian:
„Die britische Regierung hätte in dieser Situation Demut demonstrieren können, indem sie die Erfahrungen Großbritanniens hervorhebt und anerkennt. Sie hätte thematisieren können, wie Großbritannien dazu beigetragen hat, den Rassismus gegen Schwarze zu erfinden, und wie das rassistische Erbe der heutigen USA auf britische Kolonien in Amerika zurückführen ist. Es war Großbritannien, das die Versklavung Schwarzer in der Karibik industrialisierte. Und es war Großbritannien, das auf dem gesamten afrikanischen Kontinent Apartheidsysteme schuf, indem es sich das Land, die Ressourcen und die Arbeitskraft Schwarzer zu eigen machte, um beide Weltkriege zu führen und danach erneut, um den Frieden wiederherzustellen.“
Zeit für Selbstkritik
Die US-Proteste sollten die Türkei veranlassen, sich ihrem eigenen Rassismus zu stellen, betont Ex-Diplomat Aydın Selcen auf dem Internetportal Gazete Duvar:
„Wenn wir uns angesichts der George-Floyd-Ereignisse selbst im Spiegel betrachten, sehen wir, wie nach dem Völkermord an den Armeniern und dem Pogrom vom 6./7. September [1955 gegen die griechische Minderheit in Istanbul] Eigentum den Besitzer wechselte und dass das Kurdenproblem seit beinahe hundert Jahren nicht auf friedlichem und politischem Wege gelöst werden kann. ... Man braucht gar nicht so weit zurückzublicken. ... Die Zentralbehörde der Polizei bereitet in diesem Monat eine gigantische Ausschreibung von Handgranaten, Plastikgeschosse und Tränengas vor. ... Und ich muss hinzufügen: [der Ex-Vorsitzende der prokurdischen HDP] Selahattin Demirtaş sitzt seit dem 4. November 2016 im Gefängnis von Edirne.“
Frankreich hat seine Polizei im Griff
Auch in französischen Städten wird gegen Polizeigewalt demonstriert. Anlass ist auch ein neuer Bericht zum Tod des Schwarzen Adama Traoré 2016 bei einem Polizeieinsatz in der Pariser Banlieue. Frankreichs Ordnungskräfte dürfen aber nicht mit ihren US-Kollegen in einen Topf geworfen werden, warnt Christian Estrosi, konservativer Bürgermeister von Nizza, in L'Opinion:
„Ich prangere die in den USA angewandten Methoden, die Schwarzen angetane Ungerechtigkeit und die Zunahme von Polizeigewalt an. ... Meines Erachtens wäre es jedoch tödlich, die französischen Polizisten zu Sündenböcken eines US-Systems zu machen, das nicht unseres ist. Bei uns untersagt der Rechtsstaat zum Glück die Erstickungstechnik. Bei uns werden die Polizisten für Fehltritte gemaßregelt. Bei uns wird Rassismus in all seinen Formen bekämpft, aber Polizisten, die die Amtsgewalt verkörpern, werden verteidigt.“
Mark Rutte schweigt zum Hass
Kolumnistin Sheila Sitalsing kritisiert in De Volkskrant die Ausbreitung des Rassismus in den Niederlanden und das Schweigen von Premier Mark Rutte dazu:
„Er ist schon zehn Jahre Premier dieses Landes, und das hat er getan: ... Zehn Jahre, das sind: Eine Koalition mit der PVV [der Partei des Rechtsextremen Geert Wilders], also der Hass auf Marokkaner und Antillaner macht sich ohne Probleme im Parlament breit; zehn Jahre 'Verschwinde in die Türkei' und 'Benimm dich oder hau ab'. ... Zehn Jahre Protzer-Praxis bei der Polizei, die jeden Schwarzen in einem schicken Auto zum Verdächtigen degradiert. Das sind Polizisten, die sich 'Marokkaner-Vernichter' nennen. Eine Steuerbehörde, die nicht-weiße Familien von vornherein zu Betrügern erklärt. “
Absurde Gewaltspirale
In den USA scheint sich die Selbstwahrnehmung der Polizei zumindest leicht zu verändern, stellt der Journalist Dawid Warszawski in Gazeta Wyborcza fest:
„Die Polizei kann nicht ohne Waffen arbeiten. Zu viele Zivilisten haben Waffen, und diese Zivilisten sind für 15.000 der 16.000 jährlich begangenen Morde verantwortlich. ... Die 800.000 Polizeibeamten sind für die verbleibenden 1.000 Toten verantwortlich, weil sie Angst vor den Zivilisten haben, die sie eigentlich schützen sollen. Die Beamten selbst nehmen die Absurdität dieser Statistik wahr: Der Mord an Floyd wurde zum ersten Mal von Polizeiverbänden verurteilt, und der Polizeichef von Minneapolis sympathisierte mit Demonstranten, die gegen Polizeikriminalität protestierten. Aber solange die Beamten Immunität genießen, droht meinen schwarzen Freunden durch das Coronavirus weniger Schaden als durch die Polizei.“