Wahl in Belarus: Muss Lukaschenko gehen?
In Belarus steht am Sonntag die Präsidentenwahl an - und der übliche Wahlsieg des seit 26 Jahren herrschenden Alexander Lukaschenko ist so unsicher wie noch nie. Die Opposition hat sich um die Kandidatin Swetlana Tichanowskaja geschart, die erst kurzfristig an Stelle ihres inhaftierten Mannes ins Rennen ging. Doch nicht alle Kommentatoren sind überzeugt, dass sie den Sieg schaffen kann.
Bitte nicht zu früh freuen!
Die Schriftstellerin Palina Sciepanenka warnt in einem Blogbeitrag bei Radio Raciya vor allzu hohen Erwartungen:
„Die Euphorie ist die Achillesferse der neuen Opposition, weil das Ergebnis viel schwächer sein kann als erwartet. Dies würde zu großer Enttäuschung und zu vielen traurigen Folgen führen. Und der Kreml bekommt einen geschwächten Lukaschenko, der zu allem bereit sein wird. … Was jetzt in Belarus läuft, erinnert an die Proteste in Moskau im Jahr 2011, mit der ganzen vorzeitigen Euphorie und Selbsttäuschung der Opposition. Tatsächlich kann Lukaschenko Tichanowskaja am 9. August hinter sich lassen. Auch wenn er nur 36 bis 37 Prozent der Stimmen bekommen wird, aber mehr als sie. … Sie braucht ihrerseits viel mehr als 50 Prozent, um wirklich zu gewinnen, am besten 60 Prozent. Erst dann kommt es zu einem unumkehrbaren Prozess, was auch immer die Macht unternimmt.“
Die Trümpfe der Herausforderer
Der Publizist Dmytry Lytvyn erklärt in Gordonua.com, warum die Vertreter der Opposition bei so vielen Menschen gut ankommen:
„Sie kommen aus dem System und verschrecken die meisten Menschen in Belarus nicht. Vor noch nicht allzu langer Zeit waren es vor allem Nationaldemokraten, die Lukaschenko zusetzten. Nun sind es plötzlich Leute, die fast ein Lukaschenko 2.0 sind, nämlich Babariko oder Zepkalo, die typische Rentnerinnen eben nicht mit ihrer Rhetorik, einem politisierten Image oder einer Dissidentenbiografie verängstigen. … Zwar ist für Lukaschenkos Konkurrenten die Souveränität von Belarus der zentrale Wert. Doch in dieser Frage lehnen sie sich nicht weit aus dem Fenster, bleiben im Rahmen des Konsenses. Und der besagt: eine Zusammenarbeit mit Russland, Europa und China ist notwendig. Niemand will einen ideologischen Bruch mit dem Kreml.“
Dieses Mal ist alles anders
Kommersant nennt Gründe, warum diese Wahl nicht wie die vorherigen ist:
„Erstens gibt es eine unerwartete Konsolidierung der Opposition, die sich erstmals seit vielen Jahren auf ein gemeinsames Vorgehen und eine Kandidatin einigen konnte. Zweitens ist da der viel größere Andrang auf die Wahlversammlungen Tichanowskajas, die offenbar in der Lage ist, nicht nur die Symbol-Prozente zu bekommen, die jeder Polit-Versagers erreicht, wie es die Präsidialverwaltung gerne sehen würde. Das Spannendste ist jedoch, dass bis heute kein Soziologe oder Experte in Minsk oder Moskau fähig ist, reale Unterstützungswerte für Lukaschenko zu benennen: Denn Umfragen gibt es nicht.“
Zum Glück keine Digitaldiktatur
Die Technik-Verschlafenheit des Diktators ist das Glück der Opposition, meint der Publizist Maxim Gorjunow in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post:
„Wenn er zu Beginn der Nullerjahre begonnen hätte, teuflische IT-Spezialisten einzuladen, um ihm einen Überwachungsstaat zu installieren, hätten es die Menschen in Belarus heute mit einem elektronischen Monster zu tun, das ihre Gefühle und Gedanken noch vor ihnen selbst erraten könnte. … Gottlob mag Lukaschenko Rüben, rote Beete und muhende Kühe bei Sonnenaufgang. Auch 2020 stützt sich sein Regime auf Printpropaganda, den Fernseher und Polizeiknüppel. … Die Opposition steht einer Diktatur wie unter Breschnew gegenüber und nicht einer wie unter Xi Jinping.“
Aus Lettland ist kaum Hilfe zu erwarten
Die belarussische Opposition hat die Letten dazu aufgerufen, beim Abschütteln der Diktatur zu helfen. Dabei wird wohl nicht allzu viel herauskommen, befürchtet Delfi:
„Menschlich ist das ganz naheliegend. Sobald wir aber über konkrete Unterstützung nachdenken, fällt uns nichts ein und es herrscht Verwirrung. Wie können wir ihnen helfen? Vielleicht sollten wir auf die belarussischen Produkte verzichten? Klingt ziemlich naiv, denn mehr als relativ billigen Wodka aus Belarus finden wir in unseren Supermarktregalen nicht. ... Und die Haltung der Letten zur Situation im Nachbarland ist auch nicht ungeteilt - viele loben Lukaschenko für die Ordnung im Land, den guten Wodka und die guten Straßen.“
Die Revolution ist nicht mehr aufzuhalten
Der Publizist Alexej Melnikow sieht in newsru.com das Land vor einem Machtwechsel:
„Das ist der Anfang vom Ende Lukaschenkos. Er wird am 9. August verlieren, Wahlfälschungen helfen ihm nicht. Denn Belarus ist für Tichanowskaja und gegen den übergeschnappten, krächzenden Führer. Hunderttausende werden auf die Straßen gehen, sollte Lukaschenko versuchen, den Sieg zu stehlen. Er kann dann nichts mehr tun, seine Untergebenen werden ihn verraten, sie werden nicht auf die Millionen zählende Menge einschlagen oder auf sie schießen, und er wird gehen müssen. … Er ist in Panik. Außer der wankelmütigen Polizei und dem Geheimdienst hat er nichts. Und auch denen glaubt er nicht - und sie hören auf, ihm zu glauben. … Wir haben in Belarus eine revolutionäre Lage.“
Opposition wird Wahlbetrug nicht hinnehmen
Die EU sollte sich darauf vorbereiten, dass Belarus nach der Wahl in innenpolitische Turbulenzen abgleiten könnte, rät Financial Times:
„Das Team von [Oppositionskandidatin] Swetlana Tichanowskaja ist bestrebt, Smartphones und soziale Medien zu nutzen, um auf Wahlbetrug hinzuweisen. Wenn es Manipulationen im großen Stil gibt, werden die Demonstrationen nach der Wahl möglicherweise größer sein als die vor der Wahl - mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Präsident Alexander Lukaschenko und Russlands Wladimir Putin werden nicht zulassen, dass die Macht auf jemanden übertragen wird, den sie nicht kontrollieren. Da in Belarus ein langer heißer August bevorstehen könnte, sollten sich die EU-Länder bereits jetzt über eine mögliche Reaktion Gedanken machen.“
Künftiges Verhältnis zu Russland völlig offen
Der Protest gegen Lukaschenko ist nicht unbedingt auch ein Protest gegen Russlands großen Einfluss in Belarus, meint Regisseur Oleh Senzow, einst als politischer Häftling in russischer Gefangenschaft, in nv.ua:
„Die Frage ist, ob sich die Menschen in Belarus dem ukrainischen Kampf gegen den aggressiven Einfluss Russlands anschließen wollen, oder ob sie lediglich wieder einmal unter anderen Bedingungen 'Freunde' sein wollen. Die Position der Oppositionskandidatin Svetlana Tichanowska zur Krim, die man ihr buchstäblich mit der Zange aus dem Mund herausholen musste, spricht eher für Letzteres. Aber sie versteht nicht, dass Putin nach dem Fall des Regimes Lukaschenko nicht nur die Region Vitebsk, sondern die ganze Republik Belarus annektieren will. Die Kämpfer der privaten Militärfirma Wagner, die ja angeblich nur auf der Durchreise waren, sind da schon mal ein erstes Warnzeichen.“
Die junge Mittelschicht hat keine Angst
Wer aktuell die treibende Kraft der Proteste ist, erklären Jurij Pantschenko, Redakteur der Ukrajinska Prawda, und die belarusische Journalistin Tetjana Kalynowska:
„Während Opposition bislang eine Sache der gebildeten Schichten war, bildet jetzt vor allem die Mittelschicht das Rückgrat der Proteste. Es sind Leute aus kleinen Unternehmen, die am meisten von der Pandemie betroffen sind und denen zu helfen sich der Staat weigert. Seit den letzten großen Protesten haben sich die wirtschaftlichen Gegebenheiten erheblich verändert. Eine neue Generation von Wählern sieht ihre Karriere nicht mehr im öffentlichen Sektor. Mehr als die Hälfte der Einwohner von Minsk arbeitet inzwischen im privaten Sektor. Sie brauchen eine Entlassung nach der Festnahme bei einer Demonstration nicht zu fürchten.“
Wir können nicht mehr verlieren
Eine neue Grundstimmung in den Reihen der Opposition beschreibt Analyst Sergej Tschalyj im Gespräch mit tut.by:
„All die vorherigen Wahlen haben wir unter anderem deswegen verloren, weil wir nicht das Gefühl hatten, zu siegen. Doch diesmal habe ich nicht das Gefühl, das wir verlieren werden. Der Sieg kann uns gestohlen werden, aber zu verlieren ist eigentlich unmöglich. Am 10. August ist es keinesfalls vorbei. … Hier wird nicht eine Person gewählt, hier werden Werte gewählt. Es muss die Wahl getroffen werden zwischen zwei Teilen einer gespaltenen Gesellschaft. … Wer als Präsident gewählt wird, wird gezwungen sein, die Frage nach dem Umgang mit dem gespaltenen Land zu beantworten.“
Faire Wahlen statt Blutvergießen
Die belarussische Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch setzt in einem Interview mit Svaboda große Hoffnung in den Gegenkandidaten Viktor Babariko:
„Er ist ein sehr ehrlicher Mensch. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er ein bisschen romantisch ist, weil er keine Erfahrungen in diesem schmutzigen politischen Kampf hat. In einem Gespräch haben wir, Viktor Dmitriewitsch [Babariko] und ich, das thematisiert und sind zur Schlussfolgerung gekommen, dass es die heutige Macht ist, die den Kampf schmutzig macht. ... Ich finde, dass Lukaschenkos Zeit vorbei ist. … Die Menschen wollen nicht mehr in einem Land leben, in dem es keine Wahl gibt. Man darf nicht zulassen, dass es in diesem Land zum Blutvergießen kommt. Niemand will Blut. Mit allen Mitteln muss man sich um faire Wahlen bemühen.“
Mit Hausschlappen für Ordnung sorgen
Die Weißrussen haben genug von ihrer "schnurrbärtigen Kakerlake", wie sie Alexander Lukaschenko nennen, meint Maxim Jakowlew, Direktor der School for Policy Analysis an der Kiewer Universität, in nv.ua:
„Die jüngsten Ereignisse in Belarus zeigen deutlich, dass unseren Nachbarn der Geduldsfaden endgültig gerissen ist. … Interessant ist das Format der Proteste, deren Symbol Hausschlappen geworden sind. Schließlich kann man ja gerade mit Schlappen eine Schnurrbart-Kakerlake zerdrücken. … Jeder, der den aktiven Wahlkampf in Belarus verfolgt, hat den Eindruck, dass Herr Lukaschenko die Unberechenbarkeit dessen spürt, was derzeit im Land passiert.“
Da formiert sich eine kritische Masse
Auch Gazeta Wyborcza macht einen Wandel im Nachbarland aus:
„Seit Beginn des Wahlkampfs Anfang Mai hat sich die Gesellschaft vor unseren Augen von Tag zu Tag verändert, sich immer mehr zusammengeschlossen und ist 'bürgerlicher' geworden. ... Das übliche Sammeln von Unterschriften für alternative Präsidentschaftskandidaten - die entweder verhaftet oder verfolgt werden - wurde zu kilometerlangen Warteschlangen, die sich über ganze Städte erstreckten. ... Das Internet ist voll von Petitionen, die die Freilassung politischer Gefangener fordern. Berühmte Sportler, staatliche Fernsehjournalisten, Musiker und Schauspieler sprechen sich für freie Wahlen aus. Sie schämen sich für die Propaganda, an der sie beteiligt gewesen sind.“
Die Opposition bleibt gespalten
Ohne gemeinsame Vision entsteht aus den heftigen Demonstrationen noch kein kritisches Potenzial, meint der Sozialwissenschaftler Gintautas Mažeikis in Lrt:
„'Wir sind einfach müde' - dies sind keine Worte der Hoffnung, sondern die des Scheiterns. ... Das fühlt jedoch die Mehrheit der Bewohner von Belarus - immer noch kein Volk, immer noch keine Bürger. In solche müssen sie sich erst noch verwandeln. Sie brauchen einen gemeinsamen Geist und ein Lied, eine Idee und Würde, eine Vision und Gefühl von Respekt, unabhängig von Moskau. Und diese Vision, dieses Respektgefühl und diese Freiheit bietet ihnen immer noch keiner an.“
Zeugnis von großem Mut
Rzeczpospolita bewundert den Widerstand der Bürger trotz der zu erwartenden harschen Reaktion:
„Den Belarussen mangelte es nicht an Mut, als am Donnerstag Lukaschenkos Hauptkonkurrent Viktar Babaryka festgenommen wurde. Nicht nur er, auch sein Sohn Eduard landete hinter Gittern. Die mehrere Kilometer langen Solidaritätsketten wurden nicht nur in der Hauptstadt, sondern auch in vielen anderen Städten des Landes organisiert. Nur eine Nacht lang hielt Lukaschenko das aus. Am Freitag erschienen Hunderte von OMON-Offizieren [Sondereinheiten der Polizei] auf den Straßen Minsks. Die Menschen wurden buchstäblich in gepanzerte Lastwagen geworfen.“
Politik statt Auslandsreisen
Auch mit dem Wahltermin vom 8. August könnte sich die Staatsmacht verrechnet haben, argumentiert Radio Kommersant FM:
„In offiziellen Medien werden keine Umfragen veröffentlicht - woraus zu schließen ist, dass das Rating des amtierenden Präsidenten stark fällt. ... Auch hat sich das Timing als unglücklich erwiesen: Anfangs schien der August ein idealer Monat für ein Wahl-Event. Üblicherweise fehlt es dann an jeder Opposition gegen den Batka [das Väterchen]. Die Wohlhabenderen sind im Ausland in Urlaub und die weniger Reichen als Saisonarbeiter in Russland oder Polen. Aber dem hat die Pandemie den bekannten Strich durch die Rechnung gemacht. Die Weißrussen sind faktisch in ihrem eigenen Staat eingesperrt - ganz allein mit ihrem Präsidenten und der Wahlurne.“
Und der Westen schaut verblüfft
Die Proteste offenbaren auch die Unfähigkeit des Westens im Umgang mit Minsk, bedauert Lietuvos rytas:
„Die Proteste gegen Lukaschenko drohen immer mehr zu einer richtigen Revolution zu werden, die das Regime dann im Blut versenken wird. Vielleicht versinkt es auch selbst darin. ... Vilnius und andere Hauptstädte beidseits des Atlantiks stehen da, als ob sie vom Baum gefallen wären. Noch vor Kurzem stürzte man sich in eine neue Freundschaft mit Lukaschenko, begleitet von Behauptungen, er sei der wichtigste Garant der 'Souveränität' dieses Landes. ... Wird die jetzige Situation in Belarus den Westen (und Litauen) dazu bringen, über eine wirksame Politik dem Osten gegenüber zumindest nachzudenken? Oder wird man sich darauf beschränken, Besorgnis auszudrücken und zu hoffen, dass Lukaschenko das Feuer wieder löschen wird, bis ein neuer, womöglich noch größerer Brand entsteht?“