Angela Merkel: Die richtige Frau zur richtigen Zeit?
Am heutigen 1. Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Wie bereits bei der letzten deutschen Ratspräsidentschaft 2007 heißt die Kanzlerin Angela Merkel. Beobachter sehen ihre wichtigste Aufgabe darin, die EU durch die Corona-Krise zu bringen und die Wirtschaft wieder aufzubauen. Europas Presse traut ihr das größtenteils zu, doch es werden auch Zweifel laut.
Kanzlerin braucht keine Rücksicht mehr zu nehmen
Dass Merkel bald die politische Bühne verlässt, könnte der EU jetzt zugute kommen, meint Der Spiegel:
„Merkel ist erklärtermaßen am Ende ihrer politischen Karriere angekommen. Sie will nicht wiedergewählt werden. Deshalb muss sie keine große Rücksicht mehr ... nehmen, sondern kann die Ratspräsidentschaft nutzen, um Projekte voranzutreiben, die das heimische Publikum, zumal seinen konservativen Teil, nicht gerade zu Begeisterungsstürmen anstacheln. ... Es stehen viele ziemlich einschneidende Fortentwicklungen an. Die Widerstände werden beträchtlich sein, innerhalb Deutschlands und innerhalb der EU. Aber damit können sich dann Merkels Nachfolger herumschlagen.“
Nicht auf Wunder hoffen
Es ist nicht ausgemacht, dass die deutsche Kanzlerin ihre gute Ausgangsposition nutzt, um die EU bedeutend voranzubringen, zweifelt Les Echos:
„Das deutsch-französische Paar hält, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist eine Vertraute, sie kennt die Ostländer ebenso gut wie die, die man die 'Sparsamen' nennt und die das vorgeschlagene Haushaltspaket ohne große Schwierigkeiten akzeptieren dürften. Wird Angela Merkel Europa zu einem Quantensprung verhelfen? Unwahrscheinlich. Hindernisse dürften überwunden werden. Aber man darf von ihr keine großen Reden erwarten für die 'Welt danach', die 'nie wieder so sein wird wie zuvor', wie es in Südeuropa nun heißt.“
Historische Kehrtwende möglich
Merkel könnte den Paradigmenwechsel wagen, glaubt Berlin-Korrespondent Paolo Valentino in Corriere della Sera:
„Unter Merkels vorsichtiger Ägide hat das große und reiche Deutschland nie die Initiative ergriffen, nie eine Zukunft entworfen, wenn überhaupt, führte es aus der Defensive. Oder lehnte, wie in der Finanzkrise von 2010, den großen Akt der europäischen Solidarität ab, der es uns wahrscheinlich erlaubt hätte, eine andere Geschichte zu erzählen. Dass die Bundeskanzlerin über ihren Schatten springen und heute das tun wird, was sie vor zehn Jahren nicht getan hat, nämlich eine teilweise Vergemeinschaftung der Schulden vorzuschlagen, ist auf Grund verschiedener Faktoren gut möglich.“
Ukraine gerät aus dem Blickwinkel
Im kommenden Halbjahr wird die EU wenig Aufmerksamkeit für ihre Nachbarregionen haben, fürchtet Lidija Prymatschenko von der European Expert Association in Ukrajinska Prawda:
„Deutschland bereitet sich sehr sorgfältig auf seine EU-Ratspräsidentschaft vor. Eine Niederlage bei der Rettung der europäischen Wirtschaft darf nicht passieren. Schon alleine deswegen nicht, weil das die Position der radikalen antieuropäischen Kräfte stärken würde, die sicherlich versuchen werden, die Europäische Union von innen her zu destabilisieren. ... Angesichts der Komplexität der internen Herausforderungen ist es offensichtlich, dass sich die EU bis Ende des Jahres hauptsächlich auf sich selbst konzentrieren wird. Daher ist eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Ukraine, die durch große Projekte und finanzielle Hilfe ergänzt würde, nicht zu erwarten.“
Mit Merkel am Steuer die Krise überwinden
Der EU kann derzeit nichts Besseres passieren als der Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft, ist Český rozhlas überzeugt:
„'Deutschland muss den Nachbarländern helfen, ihre Wirtschaft wiederzubeleben', sagte Angela Merkel kürzlich, und das war nicht nur eine reine Proklamation. Deutschland ist eine Exportwirtschaft und von entscheidender Bedeutung, damit die gesamte Union gedeihen kann. Deutschland hat eine historische Wende vollzogen, als es einer europäischen Verschuldung zustimmte. Aus Sorge vor einem Zusammenbruch der südlichen Staaten. ... Während der letzten deutschen Präsidentschaft 2007 befand sich die Union ebenfalls in einer Krise - blockiert aufgrund des Europäischen Verfassungsvertrags. Der Durchbruch, gefolgt von einer institutionellen Reform, wurde damals ausgehandelt - von Angela Merkel.“
Corona rückt Europa den Kopf zurecht
Die Corona-Krise hat den Zusammenhalt in der EU gestärkt, glaubt das Tageblatt:
„Vielen ist nämlich deutlich geworden, dass die Europäer in einem Boot sitzen. Das Virus hat alle Volkswirtschaften empfindlich getroffen. Nur gemeinsam kommt man wieder raus aus der Krise. Auch in Deutschland ist die Bereitschaft gewachsen, dabei zu helfen. Denn man begreift, dass man für die deutsche Wirtschaft ein prosperierendes Umfeld braucht. Außerdem ist plötzlich viel Geld da. ... Die kommende Präsidentschaft ist damit für Angela Merkel auch persönlich eine Chance. Denn in der Griechenlandkrise hatte sie zusammen mit dem damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble den Ruf bekommen, sie sei im Herzen nicht solidarisch. Das hat so nie gestimmt. Es ging ihr jedoch immer um die Zukunftsfestigkeit aller Hilfen. Jetzt dürften das auch in Südeuropa wieder mehr Menschen anerkennen.“
Südländer müssen nun Disziplin beweisen
Dass die Bundeskanzlerin mit dem Wiederaufbauplan den richtigen Weg für die EU gewiesen hat, hofft Naftemporiki:
„Sollte der französisch-deutsche Plan von den 27 trotz einiger Vorbehalte akzeptiert werden, ermöglicht er es einem von der britischen Last befreiten Europa, einen neuen gemeinsamen Sprung nach vorne zu machen. ... Die Zeit, in der eine ganze Gruppe europäischer Länder gemeinsam Schulden machen wird, ist nicht mehr fern. In diesem Sinne ist das deutsche Europa, von dem viele während der Eurokrise gesprochen haben, für Merkel keine Option. Die scheidende Kanzlerin hat sich für das europäische Deutschland entschieden und in dieser Hinsicht sollten die Franzosen, Italiener, Spanier und Griechen zeigen, dass sie ohne Überschuldung wachsen und Verschwendung durch Vetternwirtschaft vermeiden können.“
Maß und Mitte halten Europa zusammen
Was ganz oben auf Berlins Agenda für die Ratspräsidentschaft steht, glaubt Respekt zu wissen:
„Eindeutig das Erreichen eines Kompromisses in zwei finanziellen Schlüsselfragen: dem Budget für die kommenden sieben Jahre und dem Fonds zur Erneuerung nach der Pandemie. ... Deutschland wird im kommenden Halbjahr wirklich mächtig. Es wird aber nicht seine Vision von Europa durchdrücken, jedoch auf die Erfüllung der Prinzipien achten. Als Land, das nicht nur geografisch, sondern auch mit seinen Meinungen im Zentrum der EU liegt, wird es auf Maß und Mitte achten. Und so das europäische Haus zusammenhalten.“
Merkel wird offensiv führen
Die Kanzlerin geht gestärkt in die Ratspräsidentschaft, freut sich The Guardian:
„Bevor Covid-19 zuschlug, wurde Angela Merkel als nicht mehr handlungsfähige politische Führerin angesehen - auch, weil sie angekündigt hatte, 2021 zurücktreten zu wollen. Doch nun hat Deutschlands sicherer und überzeugender Umgang mit der Epidemie ihre Autorität gestärkt und ihr das nötige politische Kapital verliehen, um in einer Krisenpräsidentschaft durchaus auch Risiken eingehen zu können. Deutschland wurde manchmal dafür kritisiert, 'aus der Defensive zu führen'. In den kommenden sechs Monaten wird Merkel von vorne führen. Für die EU ist das in einer Zeit, in der es um mehr geht als je zuvor, eine gute Nachricht.“
Emanzipiert sich das "Callgirl"?
Ob die EU aufhören wird, nach der Pfeife der USA zu tanzen, fragt sich Duma:
„Europa versucht, aus der Rolle des 'Callgirls' auszusteigen, das Washingtons Hegemonialtrieb befriedigt. So können zumindest die Position von Angela Merkel im Interview [mit mehreren europäischen Zeitungen vergangene Woche] sowie das Gespräch von Emmanuel Macron mit Wladimir Putin [per Videoschalte am Freitag] gedeutet werden. ... Allerdings sagte Merkel auf die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, dass die EU strategische Autonomie und echte Souveränität erlangt: Die EU sollte darüber nachdenken, aber nur, wenn Amerika seine Rolle als Weltmacht aufgeben wolle. Europa würde also Souveränität nicht aus innerer Notwendigkeit suchen, sondern weil man auf äußere Umstände reagieren müsste. Wenn dem so ist, kann man davon ausgehen, dass Europa auch nach der Präsidentschaftswahl am 3. November das 'Callgirl' der USA bleiben wird.“