Hagia Sophia: Vom Weltkulturerbe zum Spaltpilz?
Zum ersten Freitagsgebet seit 85 Jahren versammelten sich am Freitag Zehntausende Muslime in und vor der Hagia Sophia. Der im Jahr 537 fertiggestellte, zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Komplex war bis 1453 Kirche, dann Moschee und zuletzt Museum gewesen. Während der türkische Präsident Erdoğan die umstrittene Wiedereröffnung als Moschee feierte, reagiert Europas Presse mit Bedauern.
Ein Land zwischen zwei Extremen
Die Türkei befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen völlig unterschiedlichen Orientierungspunkten, kommentiert Hürriyet Daily News:
„Zur selben Stunde, als die Massen sich draußen vor der Hagia Sophia versammelten, wollten diverse NGO-Vertreter in einigen Städten, einschließlich Ankara und Izmir, des Jahrestags des Vertrags von Lausanne gedenken. ... Die heutige Türkei offenbart, leider, zwei völlig unterschiedliche Seiten. Die eine zeigt einen wachsenden nationalistisch-konservativen Trend, die andere einen pro-demokratischen, säkularen und modernistischen Trend. Während ersterer der Wiedereröffnung der Hagia Sophia als Moschee zujubelt, macht letzterer deutlich, dass Atatürk und seine Revolutionen nicht einfach verschwinden werden.“
Europa hat die Türkei verloren
Die Umwandlung der Hagia Sophia zeigt, wie radikal sich das Land unter Erdoğans Führung gewandelt hat, schreibt der ehemalige schwedische Außenminister Carl Bildt in nv.ua:
„Die Türkei war mehr als zehn Jahre auf dem Weg demokratischer Reformen in Richtung Europa. Das Land plante sogar eine Überarbeitung seiner Verfassung und nahm 2005 offizielle Beitrittsverhandlungen zur EU auf. Seine Transformation war beeindruckend und tiefgreifend. Das hat uns als Beobachter von außen begeistert. Aber diese hoffnungsvollen Tage sind vorbei. Statt sich zu modernisieren und dem Rest Europas anzunähern, versinkt die Türkei unter Erdoğans Herrschaft im Sumpf des Nahen Ostens. Diese grundlegende Veränderung hat viele Gründe. Dazu gehören der gescheiterte offizielle Dialog des Landes in der Kurdenfrage und der Putschversuch von Militärs, die zur Fethullah-Gülen-Bewegung gehörten, im Sommer 2016.“
Abrechnung mit Atatürk geht zu weit
Erdoğan wiederholt letztlich die Fehler von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, schreibt die Türkei-Korrespondentin Susanne Güsten im Tagesspiegel:
„Dieser hatte die Türkei als säkularen Staat geschaffen, der sich zur europäischen Kultur hinwenden sollte. Erdoğan und seine Anhänger empfanden diese Ausrichtung schon immer als Zeichen einer Fremdbestimmung, als Unterdrückung des wahren Volkswillens. ... Die Kritik am Staatsgründer ist nicht unbegründet. Atatürks Weichenstellung hatte fatale Folgen, weil sie gläubige Muslime von Universitäten und Staatsämtern fernhielt und zu Bürgern zweiter Klasse machte. Erdoğan hat diesen Fehler korrigiert, geht aber zu weit. Er ist dabei, die Türkei als eine Republik der Muslime neu zu definieren. Das führt dazu, dass sich Millionen nicht religiöse Menschen und Mitglieder von Minderheiten ausgegrenzt fühlen.“
Erdoğan beherrscht den Krieg der Symbole
Die Zusicherung, die Hagia Sophia werde ein für alle und jeden zugängliches Denkmal bleiben, ist für Pravda eine reine Schutzbehauptung:
„Dies ist nur eine schwache Aussage, wenn es um eine politische Entscheidung geht, die in klarer Symbolsprache spricht. Welches andere Denkmal der menschlichen Kultur ist widersprüchlicher als die Hagia Sophia von Byzantinisch-Konstantinopel? Die nach fast einem Jahrtausend in eine Istanbuler Moschee verwandelt wurde, als 1453 eine große Phase christlich-muslimischer Rivalität endete und sich die geopolitischen Gleichgewichte verschoben? Nichts ist besser geeignet, um Spannungen zu eskalieren, als ein Krieg der Symbole. Präsident Erdoğan weiß das ganz genau.“
Atatürk hat längst gesiegt
Erdoğan wird wohl bald einsehen müssen, dass ihm das Spektakel politisch nichts gebracht hat, kommentiert die Berliner Zeitung:
„So enthüllten Drohnenfilme, dass am Tag der Umwandlungsentscheidung statt wie erwartet Zehntausende Gläubige gerade 200 Jubeltürken den Weg zur Hagia Sophia fanden. Meinungsforscher ermittelten, dass mehr als 40 Prozent der türkischen Bevölkerung glauben, Erdoğan wolle damit nur die Wirtschaftskrise übertünchen. Von der jungen Generation Z interessieren sich nur noch zehn Prozent überhaupt für Religion. ... Erdoğan scheitert an der profanen Wahrheit, dass die säkulare Moderne auch an der Türkei nicht spurlos vorbeigeht. In Wahrheit hat der prowestliche Republikgründer Atatürk, der die Hagia Sophia zum Museum und wichtigsten Symbol seiner säkularen Politik machte, längst gesiegt.“
Erdoğan als verlorener Tourist
Auf den Fotos, die er von sich in der Hagia Sophia machen ließ, wirkt der türkische Präsident seltsam fehl am Platz, bemerkt Historiker Ionuț Cojocaru in G4Media.ro:
„Seit Jahren verfolge ich die Nachrichten aus der Türkei, aber bisher war mir keine Meldung bekannt, dass Recep Tayyip Erdoğan einmal die Hagia Sophia besucht hätte. Er interessierte sich nicht für das Kulturdenkmal. ... Jetzt aber, wo er symbolisch als zweiter Eroberer von Konstantinopel gesehen wird, ließ er sich darin fotografieren, um den Eindruck eines Mannes zu hinterlassen, der Geschichte schreibt. Auch wenn sich Profi-Fotografen bemüht haben, ihn in Szene zu setzen, hinterlässt er bei mir den Eindruck eines Mannes, dem der Ort fremd ist, oder eines Touristen, der nicht weiß, was er dort eigentlich zu suchen hat.“
Politische Entscheidung gefährdet kulturelles Erbe
Die Hagia Sophia wird nicht mehr dieselbe sein wie zuvor, fürchtet Público:
„Die Umwandlung eines Museums in eine Moschee ist aus politischer und geopolitischer Sicht nicht harmlos und birgt Risiken für das bis heute erhaltene kulturelle Erbe. Das große Christus-Pantokrator-Mosaik und andere byzantinische Mosaike müssen, wie vor vielen Jahrhunderten, wieder zugemauert werden, und viele Details der christlichen Geschichte im gesamten Gebäude müssen entfernt oder verborgen werden. ... Die Hagia Sophia verlässt man nicht, wie man sie betreten hat, nicht umsonst heißt sie 'heilige Weisheit'. Aber es ist nicht dasselbe, sie als Moschee oder als Museum zu betreten. ... Die Betrachtung verändert sich, die Gesten verändern sich und vieles, was wir heute sehen, kann nicht in einer Moschee gezeigt werden, ohne die Vorschriften des Islam zu verletzen.“
Dem Druck der christlichen Welt standgehalten
Auch die regierungstreue Sabah sieht die Umwidmung als politisch motiviert, allerdings zu Recht:
„Wir mussten zeigen, dass wir uns dem Druck, den die christliche Welt in den vergangenen Jahren zunehmend auf die Türkei ausgeübt hat, nicht beugen werden. War es nicht ein jüdischer Schriftsteller, Stefan Zweig, der geschrieben hat, dass die christliche Welt ihre größte Ohrfeige von Fatih Sultan Mehmet erhalten habe, als dieser in der Hagia Sophia das islamische Gebet abhielt? ... Das ist also der Grund dafür, dass die Hagia Sophia unter Wahrung ihrer Eigenschaft als Museum zum Gebet geöffnet wurde. Und das bedeutet, dass die Entscheidung zur Hagia Sophia eine politische ist.“
Motiviert durch den Schulterschluss mit Moskau
Die Außenpolitik hat bei Erdoğans Entscheidung eine entscheidende Rolle gespielt, erklärt Ta Nea:
„Nein, Erdoğan hat nicht beschlossen, die Hagia Sophia in eine Moschee zu verwandeln, um das kemalistische Erbe auszulöschen. Diese Aktion ist eindeutig geopolitisch motiviert und wurde in Ankara und im Ausland sorgfältig kalkuliert. … Erdoğans kommerzielles und militärisch-strategisches Bündnis mit Russland und Erdoğans daraus resultierende Verachtung für Washington und die Nato sind die entscheidende Motivation gewesen für einen Schritt, der ansonsten - auch was den Zeitpunkt betrifft - eher verwirrend anmutet.“
Umwidmung zeugt von mangelndem Selbstbewusstsein
Artı Gerçek findet die Entwicklungen schlichtweg tragisch:
„Istanbul verschließt sich vor der Welt, auf eine Weise, die nicht zu seiner Vergangenheit und Identität passt. ... Seit der Eroberung Istanbuls [durch die Osmanen] sind 567 Jahre vergangen. Aber offenbar kann man immer noch nicht glauben, dass diese prächtige Stadt uns nun dauerhaft überlassen wurde. Man versucht auf unnötige Weise zu beweisen, dass die Stadt unser Eigentum ist – was im Grunde von mangelndem Selbstbewusstsein zeugt. Das universelle Kulturerbe dieser Stadt gehört sowohl uns als auch der Welt. Unsere wahre Aufgabe ist es, dieses Erbe passend zu seiner Geschichte zu bewerten und es der Welt zu präsentieren, damit diese es bestaunen kann. Die Wandgemälde der Hagia Sophia zu verdecken, und sei es auch nur zu den Gebetszeiten, erweist Istanbul keinen Dienst.“
Die Unesco muss jetzt Druck machen
Berlingske findet die offizielle Stellungnahme der Unesco, die den türkischen Beschluss als "sehr bedauerlich" bezeichnet hat, viel zu schwach:
„Die Nationen, die hinter der Bewahrung des Weltkulturerbes stehen, müssen nun kräftig Alarm schlagen. Der Westen mit seinen vielen Gastarbeitern beschert der türkischen Tourismus-Industrie jedes Jahr hunderte Milliarden Kronen; wenn jemand Nutzen aus einem guten Verhältnis zu den stärksten Ökonomien des Westens zieht, dann die Türken und Präsident Erdoğan selbst. Das Bauwerk mit seiner gigantischen Kuppel existiert tatsächlich nur dank der Hilfe der Weltgemeinschaft: Es befindet sich in einem Erdbeben-Risikogebiet. ... In Zusammenarbeit mit der Unesco haben sich türkische Ingenieure intensiv um eine Lösung gekümmert. Mit anderen Worten: Die Unesco muss die Angelegenheit nun höher hängen und Druck ausüben.“
Die "Religionsfeinde" schweigen
Die türkische Opposition hat die Hagia-Sophia-Entscheidung größtenteils nur verhalten kritisiert oder sogar begrüßt. Sehr zum Unmut mancher Regierungsanhänger, beobachtet Habertürk:
„Einige 'Trolle' oder diejenigen, die sie benutzen, sind nicht sehr glücklich darüber, dass die Opposition und die Journalisten, die sie als Opposition deklarieren, nicht auf die Wiedereröffnung der Hagia Sophia reagiert haben. Sie wollen, dass jemand hervortritt und sagt 'Du kannst sie nicht eröffnen, das lassen wir nicht zu'. Um dann den Finger auf sie zu richten und zu sagen 'Das sind die Religionsfeinde, die vom Westen kontrollierten Ungläubigen'. ... So könnten sie eine neue Konfrontation, eine neue Bruchstelle schaffen. Wenn keine Kritik kommt, sind sie sehr enttäuscht und fragen sich vielleicht sogar: 'War es etwa umsonst, die Hagia Sophia für Gottesdienste zu öffnen?'“
Das Ende des Laizismus
Die Schriftstellerin Aslı Erdoğan kritisiert in Le Monde:
„Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist ein bewusster Schlag ins Gesicht derjenigen, die immer noch glauben, dass die Türkei ein säkulares Land sei. Das System des Kemalismus - oder besser gesagt des Laizismus, da die Türkei eher dem französischen als dem angelsächsischen Modell folgte - wird damit für abgeschafft erklärt. ... So zeigt Erdoğans Regime, dass von nun an das Osmanische Reich das neue Modell für die heutige Türkei ist. Dieses Regime wird sich weder länger mit moralischen Werten aufhalten, die dem Westen oder der zeitgenössischen Gesellschaft zugeschrieben werden, noch mit allgemeinen westlichen Konzepten der Moderne. Es wird nicht zulassen, dass Kleinigkeiten wie Recht und Demokratie seiner großen Eroberung im Wege stehen. Der Eroberung der absoluten Macht.“
Sehnsucht nach glorreicher Vergangenheit
Karar erklärt, welche Symbolkraft das Bauwerk für religiös-nationalistische Türken hat:
„Der Traum einer Hagia Sophia, von deren Minaretten wieder zum Gebet gerufen wird, repräsentiert die Idee der 'Befreiung der Türkei von der Herrschaft der westlichen Welt'. ... Denn die Umwandlung in ein Museum wurde als Akzeptanz der Niederlage gegenüber dem Westen gesehen. ... Zudem erinnert die Hagia Sophia an unsere ruhmreiche Geschichte und lässt uns die Niederlagen vergessen, die wir in jüngerer Zeit intellektuell, wirtschaftlich, politisch und militärisch gegenüber dem Westen erlitten haben. Sie ist das Symbol der Hoffnung, diese majestätische Vergangenheit eines Tages wiederzubeleben. (Doch natürlich zeugt es nicht von einer gesunden Psychologie, den Erinnerungen an vergangene schöne Tage hinterherzujagen, anstatt sich unserem elenden heutigen Zustand zu stellen.)“
Vielleicht der Anfang vom Ende für Erdoğan
Der türkische Präsident pokert hoch, findet Naftemporiki:
„Sehr wahrscheinlich hat sich Erdoğan bewusst für diese Hybris und unbeschreibliche Beleidigung der westlichen Zivilisation entschieden, in der Hoffnung auf 'Vergeltung' durch die christliche Welt. Wird es eine Vergeltung geben, wird er sich als von außen bedrohtes Opfer darstellen, um seine Anhänger um sich zu sammeln. Doch Erdoğan ging kein vertretbares Risiko ein, sondern verwechselte höchstwahrscheinlich seinen Schatten mit seiner Gestalt. Mit seiner Aktion beleidigt er die größten Akteure der Region und fordert sie heraus: vom orthodoxen Russland über die EU bis hin zu den Vereinigten Staaten, die in ein paar Monaten einen anderen Präsidenten haben könnten. Nicht ausgeschlossen, dass die Hagia Sophia am Ende seine Nemesis wird.“
Mit Gegenwind ist zu rechnen
Jetzt gehen die Auseinandersetzungen erst los, vermutet Politikanalyst Radu Carp in Adevărul:
„Es bleibt abzuwarten, wie andere islamische Staaten reagieren werden. Denn aus Sicht islamischer Prinzipien ist die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ziemlich umstritten. Zudem schaut man aus anderen islamischen Ländern gerade kritisch auf das, was in der Türkei passiert - es ist schwer, einen mächtigen Konkurrenten zu akzeptieren. Gut möglich ist auch, dass nun ein langer Streit über das Besitzrecht an der Hagia Sophia beginnt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bereits 2010 zu einem Rechtsstreit um Besitztümer des ökumenischen Patriarchats [von Konstantinopel] in der Türkei geurteilt. ... Die Frage ist noch, wer als Kläger auftreten könnte. Ideal wäre, wenn diese Rolle das ökumenische Patriarchat und die Unesco übernehmen würden.“
Als würde man Pompeji wieder zuschütten
Wedomosti sorgt sich um die byzantinischen Kunstwerke in dem Bauwerk:
„Neun Jahrhunderte war dies der prächtigste Architekturkomplex und das Kunst-Zentrallager des Planeten. ... Faktisch ist die Hagia Sophia die einzige erhaltene Brücke zwischen der Kunst der Antike und der Renaissance. Und jetzt wird sie Moschee. Der Marmorboden wird mit einem Teppich abgedeckt und die freigelegten Mosaiken müssen verschwinden. Die türkischen Behörden sagen, man erörtere dafür mehrere Varianten: Vorhänge, eine Verdunkelung per Lasersystem oder die Demontage und Überführung der Mosaiken in ein Museum. Man stelle sich mal vor, die italienische Regierung hätte beschlossen, Pompeji wieder zuzuschütten und das Land den Nachkommen jener Bauern zu überlassen, die hier bis Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Gärten bestellten.“
Idealer Ort für interreligiösen Dialog
Der Priester Fernando Calado Rodrigues spricht sich in Jornal de Notícias für eine gemeinsame Nutzung der Hagia Sophia durch Muslime und Christen aus:
„Als man im Juni über Erdoğans Wunsch zu sprechen begann, das Museum in eine Moschee zu verwandeln, schlug der armenische Patriarch von Konstantinopel Sahak Mashalian vor, die Hagia Sophia nicht nur für Muslime, sondern auch für Christen zum Gottesdienst zu öffnen. Dies wäre die ideale Lösung, zum einen, weil die den Zweck respektiert, für den die Hagia Sophia gebaut wurde - als Ort des Gebets. Zum anderen, weil sie so ein Raum für ein interreligiöses Zusammenleben würde. Auf diese Weise würde sie zur Annäherung und zum guten Verständnis zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen beitragen. “
Erdoğan begeistert die Muslime
Ein historischer Tag, jubelt die regierungstreue Sabah:
„Präsident Tayyip Erdoğan, der Architekt der Entscheidung, der die Sehnsucht nach Anbetung in türkisch-islamischen Städten vollendet und eine Milliarde und 700 Millionen Muslime auf der Welt begeistert hat, wird mit seinen Gebeten in Erinnerung bleiben. ... Der 10. Juli ist der Tag, an dem erkannt wurde, dass die Eroberung von Manzikert 1071 nicht beendet ist, dass die Befreiung von Istanbul 1453 [durch die Osmanen] nicht vollendet wurde, dass diese Eroberung bis in die Ewigkeit, bis zur Apokalypse weitergehen wird. ... Es ist natürlich eine strategische Entscheidung, aber sie verdient auch allen heiligen Applaus und Dankbarkeit. “
Trumpfkarte zum Stimmenfang
Die Entscheidung soll Erdoğan und seiner AKP das politische Überleben sichern, glaubt Kolumnist Rahmi Turan in der kemalistischen Sözcü:
„Ich erahne Schritte zu einer vorgezogenen Neuwahl. Zwar versichert die AKP-Führung stets: 'Es gibt keine vorzeitigen Wahlen. Wir sind bereits an der Macht. Warum sollten wir wählen lassen?', aber alle Entwicklungen zeigen, dass dies nicht stimmt. ... Die Türkei verzeichnet bei ihrer Wirtschaft, Arbeitslosigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit schlechte Noten. ... Umfragen zufolge verlieren die AKP und ihr kleiner Partner MHP weiterhin an Stimmen. Bevor sie dort noch mehr Verluste einfahren, könnten sie mit dem Wind, den das Hagia Sophia-Ereignis bei der religiösen Basis ausgelöst hat, zur Wahl gehen. Die AKP glaubt, die 'Hagia-Sophia-Trumpfkarte' gerade zur richtigen Zeit genutzt zu haben. Aber kann die Entscheidung diese Regierung retten?“
Internationales Schulterzucken
Der Analyst Pampos Chrysostomou hätte sich in Politis weltweit eine klarere Positionierung gegen die Entscheidung erhofft:
„Abgesehen von Zypern und Griechenland, die die rechtswidrige Entscheidung scharf verurteilten und ihren Widerruf forderten, sind die Reaktionen der restlichen Staaten, die Druck ausüben können, um die Entscheidung aufzuheben, lauwarm bis neutral. … Die Schlussfolgerung aus der Haltung der EU, Deutschlands, der Vereinigten Staaten, Russlands und anderer Länder zu Erdoğans provokativem Handeln ist klar. ... Ihre Reaktion auf das Problem der Hagia Sophia zeigt auch, wie sie mit anderen Problemen im Zusammenhang mit kriminellen Aktivitäten der Türkei im südöstlichen Mittelmeerraum umgehen werden.“
Schädliche Instrumentalisierung der Justiz
Der türkische Präsident sollte die Gerichte in dem Streit um die Hagia Sophia außen vor lassen, kommentiert Juraprofessor Ali D. Ulusoy in T24:
„Letztendlich ist es das einzig Richtige, die Rechtsbehörden nicht für derartige politisch motivierte Angelegenheiten zu instrumentalisieren. Der Präsident, der ohnehin bereits dazu befugt ist, sollte mit einem persönlichen Amtsbeschluss die Umwandlung in eine Moschee vollziehen. Und der Kritik, die von der internationalen Gemeinschaft kommen wird, sollte er sich ebenso persönlich stellen. Unnötig hinzuzufügen, dass die Gerichte bei politisch motivierten Angelegenheiten prinzipiell keine Verantwortung übernehmen sollten.“
Geopolitische Spiele statt Reformen
Die Bestrebungen, die Hagia Sophia in eine Moschee umzuwandeln, verschärfen die Spannungen in der Region, glaubt Redakteur Ivan Verstyuk in nv.ua:
„Erdoğan will Griechenland zumindest einen Teil der europäischen Touristen wegnehmen und hat der Idee der Konkurrenz mit Griechenland den Status eines Glaubenssatzes verliehen. … Die Ereignisse rund um die Hagia Sophia sind ein Beispiel, wie osteuropäische Politiker anstatt die Wirtschaft zu reformieren und das Investitionsklima zu verbessern, geopolitische Spiele spielen und hoffen, damit ihre Beliebtheitswerte zu erhöhen. Aber eine religiöse Pandora-Büchse ist ein schlechtes Mittel zur Steigerung der Umfragewerte.“
Zu wertvoll für Ränkespiele
Bei der Debatte geht es um viel mehr als nur um Politik, gibt Hürriyet Daily News zu bedenken:
„Die Hagia Sophia ist ein viel zu schönes Monument und ein viel zu wertvolles historisches Zeugnis, um als Spielstein der Regionalpolitik zu dienen. Aufeinander folgende byzantinische, osmanische und türkische Regierungen haben sie gegen die Verwüstungen der Zeit beschützt, und das hat ihre Bedeutsamkeit nicht nur für sie selbst, sondern auch für zukünftige Generationen, uns eingeschlossen, erhalten. Es ist für uns Schüler der byzantinischen und osmanischen Kunst und Kultur eine Angelegenheit von zentraler Bedeutung, dass die jetzige türkische Regierung diese Tradition eines verantwortungsbewussten Verwalteramtes fortführt. “
Neo-osmanische Umwandlung des Kemalismus
Da Erdoğan Atatürk und den Kemalismus nicht aus der Geschichte streichen kann, deutet er sie eben um, analysiert Historiker Olivier Bouquet in Le Monde:
„Einige große kemalistische Symbole werden im Dienste der neo-osmanischen Agenda neu ausgerichtet: Die Hagia Sophia wurde nach der Eroberung Konstantinopels 1453 von einer byzantinischen Basilika in eine Moschee verwandelt und 1934 auf Entscheidung Atatürks hin zum Museum umgestaltet. Präsident Erdoğan hofft, daraus erneut eine Moschee machen zu können. Während des Gedenkens an die Eroberung Konstantinopels am 29. Mai wurde in der Hagia Sophia die 48. Sure des Korans ('Die Eroberung') gelesen. Am gleichen Tag wurden Bohrungen im griechischen Meeresgebiet angekündigt. Eins der Schiffe der Operation heißt Fatih ('der Eroberer'). ... In vielerlei Hinsicht ist der Erdoğanismus eine neo-osmanische Umwandlung des Kemalismus.“
Ein Ablenkungsmanöver für die Katz
Die Zukunft der Hagia Sophia ist gewiss nicht das, was die Menschen in der Türkei jetzt beschäftigt, analysiert The Independent:
„Unabhängig davon, ob das Gericht innerhalb der kommenden 15 Tagen entscheiden wird, dass das Denkmal künftig als Moschee dienen soll oder nicht: Die betäubende Wirkung der Kontroverse wird nur kurze Zeit anhalten. Danach wird die Bevölkerung sofort wieder mit der krassen Realität des wirtschaftlichen Abschwungs der vergangenen zwei Jahre konfrontiert sein, der sie ärmer werden ließ. ... In einer Umfrage des Instituts İstanbul Ekonomi Araştırma mit 1537 Teilnehmern nannten über 40 Prozent die Wirtschaft als ihr Hauptproblem, gefolgt von 19 Prozent, die sich vor allem Sorgen über die Arbeitslosigkeit machten.“