Corona-Impfung in der EU: Bald geht es los
Am heutigen Montag will die Europäische Arzneimittel-Agentur über die Zulassung des Impfstoffs von Biontech/Pfizer entscheiden. Die anschließend notwendige Zustimmung der EU-Kommission gilt als sicher. Noch vor Jahresende soll dann eine EU-weite Impfkampagne starten. Kommentatoren beschäftigt, was Europa auf dem langen Weg zur Impfstoffzulassung gelernt hat.
Doppelter Sieg oder totale Niederlage
Europa muss gemeinsam kämpfen, mahnt Chefredakteur Maurio Molinari in La Repubblica:
„Die Europäische Union steht vor einer epochalen Herausforderung. Innerhalb von sechs bis sieben Monaten sollen Hunderte von Millionen Menschen gegen Covid-19 geimpft werden. … Wenn uns dieses Unterfangen gelingt, wird die Verbreitung des Virus eingedämmt, und der wirtschaftliche Wiederaufbau in den einzelnen Staaten kann beschleunigt werden. Und Europa wird durch eine Strategie des gemeinsamen Prozederes gestärkt aus der Situation hervorgehen. Gelingt uns dieses Unterfangen nicht, wird das Domino der negativen Folgen, von der Gesundheit bis zur Wirtschaft, verheerende Auswirkungen haben. Für alle.“
Pharmaindustrie gehört in die öffentliche Hand
Aus der Covid-Impfstoffentwicklung lässt sich einiges für die Zukunft lernen, meint der marxistische Ökonom Michael Roberts in Baricada:
„Einige Milliarden Dollar pro Jahr, die für zusätzliche Grundlagenforschung ausgegeben werden, könnten den tausendfachen Verlust von Menschen und wirtschaftliche Zerstörung verhindern. … Und welche bessere Lektion können wir aus der Erfahrung mit dem Impfstoff gegen Covid lernen als die, dass multinationale Pharmaunternehmen öffentliches Gemeingut sein müssen, so dass Forschung und Entwicklung auf die medizinischen Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sind und nicht auf die Profite dieser Firmen? Mehr noch, so könnten die nötigen Impfstoffe auch zu den Milliarden Menschen in den ärmsten Ländern gelangen statt nur in die Länder und zu den Menschen, die sich den Preis leisten können, der von den Firmen festgelegt wird.“
Behördenweg zahlt sich aus
Durch die EU-Bürokratie wird ein entscheidendes Argument von Impfskeptikern entkräftet, lobt der Kurier:
„Im Gegensatz zu Großbritannien hat man auf eine Notzulassung verzichtet und ist einen hürdenfreien, normalen Weg durch die Behörden gegangen. Das demonstriert nüchterne Handlungsfähigkeit und hat auch handfeste Konsequenzen für die Arzneimittelhersteller: Im Falle von Problemen sind sie voll haftbar. Es ist nicht davon auszugehen, dass börsennotierte Konzerne wie Pfizer ein Interesse daran haben, ein halbfertiges Vakzin durch diverse strenge Begutachtungsverfahren zu schummeln, um an unvorhergesehenen Folgen selbst pleite zu gehen.“
Jetzt nicht die Verantwortung abgeben
Es gibt keinen Grund, bei den Vorsichtsmaßnahmen nachlässig zu werden, warnt Etelä-Saimaa:
„Die erste Impfstofflieferung ist klein. Anfangs werden nur die Schlüsselpersonen aus dem Gesundheitswesen geimpft, jene, die Coronapatienten pflegen. … Noch kann man nicht aufatmen, auch wenn man sich über die positiven Nachrichten freuen darf. Bevor nicht mit den Impfungen im großen Stil begonnen wurde, können keine Abstriche bei den derzeitigen Verhaltensregeln gemacht werden. Der Kampf gegen die Krankheit liegt weiter in der Verantwortung jedes Einzelnen: Handhygiene, Mund- und Nasenschutz, Abstand halten und nach Möglichkeit im Homeoffice arbeiten sind weiterhin entscheidende Maßnahmen zur Vermeidung von Infektionen.“
Ema-Prozess ist nachhaltig und fair
Die taz nimmt die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema) gegen Vorwürfe in Schutz, sie arbeite zu bürokratisch und langsam:
„[D]ie Ema betritt Neuland. Sie ist die erste Behörde weltweit, die eine 'bedingte' Zulassung erteilt. Der Impfstoff wird also regulär überprüft, wofür Biontech/Pfizer umfangreiche Daten über ihre Testergebnisse liefern mussten. Die USA und Großbritannien hingegen haben Notfallgenehmigungen erteilt und den Impfstoff weniger gründlich kontrolliert. Das birgt nicht nur Gefahren für die Patienten - langfristig könnte es auch den Erfolg der Impfkampagne torpedieren. ... Es ist der EU hoch anzurechnen, dass sie den Coronanationalismus ihrer Mitgliedsländer abgebremst hat. Die Impfstoffe werden gerecht auf alle EU-Staaten verteilt - und alle fangen gleichzeitig mit dem Impfen an. Auch dafür steht die Ema: für ein geeintes Europa.“
Italiens Bürokratie kann da nicht mithalten
Den Italienern wird eine schnellere Ema-Zulassung nichts bringen, schimpft Kolumnist Luigi La Spina in La Stampa:
„Der offizielle Applaus unserer Regierungskräfte verbirgt nur mit Mühe den Schauer des Schreckens. Denn die für die Verteilung des Medikaments verantwortliche Einrichtung hatte geplant, Mitte Januar mit den ersten Impfungen zu beginnen. Jetzt droht sie auf den vorgezogenen Start nicht vorbereitet zu sein. Dies bestätigt das nationale und internationale Vorurteil über die Italiener: kreativ, ja, aber immer unpünktlich und chaotisch. Doch ist es weder eine Frage der Chromosomen, noch von Sonne, Meer und Mandoline. ... Das Problem Italiens, vielleicht das schwerwiegendste und am schwierigsten zu lösende, liegt in der Verflechtung von Politik und Bürokratie, zweier scheinbar großer Kräfte, die in Wirklichkeit zwei große Schwächen miteinander verbinden.“
Schnell heißt nicht übereilt
Das Argument, die Impfstoffentwicklung sei zu schnell erfolgt und die Impfung daher zu riskant, hat für Dnevnik keine Substanz:
„Die Menschen müssen wissen, dass an diesen Impfstoffen, egal wie Avantgarde sie erscheinen mögen, nicht erst seit gestern geforscht wird. RNA-Impfstoffe sind seit 30 Jahren in Arbeit. Außerdem haben die Teams, die sie entwickeln, Erfahrung mit dieser Art von Impfstoff gegen andere Krankheiten, einschließlich Sars, Mers und so weiter. Die Wissenschaft erfüllt also nur die wichtige Aufgabe, in einer Extremsituation schnell zu reagieren. Die Geschwindigkeit der Impfstoff-Entwicklung sollte uns daher nicht beunruhigen.“
Womit lässt sich Erdoğan impfen?
Die Türkei hat sich für den chinesischen Impfstoff Coronavac entschieden, die Bevölkerung zeigt sich diesem gegenüber jedoch enorm misstrauisch. Selbst wenn Präsident Erdoğan sich öffentlich selbst damit impfen lässt, wird sich daran nichts ändern, glaubt Kolumnistin Elif Çakır in Karar:
„Falls Erdoğan und seine AKP-Gefolgschaft sich tatsächlich mit dem chinesischen Impfstoff impfen lassen, werden sie die Öffentlichkeit davon überzeugen können? Wird die AKP nicht sogar damit Schwierigkeiten haben, die eigene Basis davon zu überzeugen, dass sich in den Kanülen der chinesische Impfstoff befand? ... Das ist die eigentliche Frage und das eigentliche Problem der AKP-Regierung! Einmal verlorenes Vertrauen kommt so leicht nicht mehr zurück. ... Die AKP hat das Vertrauen eines Großteils der Gesellschaft nicht nur in Bezug auf das Impfthema verspielt.“
Keine Zeit für Trödelei
Dass die EU länger als Großbritannien für eine erste Zulassung braucht, kann nur an der Bürokratie liegen, vermutet Der Standard:
„Das Vorgehen der britischen Beamten scheint aus heutiger Sicht richtig zu sein und das langsamere Vorgehen der EU-Arzneibehörde EMA ein Fehler. ... Die Union verliert im Kampf gegen Covid gegenüber dem Brexit-Staat mehr als einen Monat. In dieser Zeit sind keine neuen Erkenntnisse über den Impfstoff zu erwarten. Allfällige Lücken in seiner Wirksamkeit oder längerfristige Schäden werden erst später sichtbar werden. Die Zeitplanung der EMA ... ist nicht von besonderer Sorgfalt getrieben, sondern von den Gesetzen der Bürokratie. In normalen Zeiten mag dies verständlich sein, nicht aber inmitten einer katastrophalen Pandemie.“
EU-Experten vertrauen
Die NZZ am Sonntag findet das Vorgehen der Schweiz überflüssig:
„Statt sich auf die Expertise abzustützen, prüft das Schweizerische Heilmittelinstitut die Impfstoffe gesondert. Natürlich geht Sicherheit vor, aber wenn es einen Moment gibt, in dem Tempo zählt, dann jetzt. In der Pandemie kostet jeder Tag Leben. ... Die Politik wäre daher gut beraten, in der Pandemie auf eine eigene Prüfung zu verzichten. Vielleicht ist dieses Modell grundsätzlich überholt. Schliesslich übernimmt der Bund Verordnungen der EU für Nahrungsmittel auch routinemässig. Was spricht dagegen, dies auch bei Medikamenten so zu handhaben? ... Benötigen wir in Zukunft in Bern wirklich eine eigene Behörde, die sich über dieselben Dossiers beugt wie die 800 Spezialisten der EU in Amsterdam?“
In Russland wird es noch lange nicht losgehen
Russlands Pharmabranche fehlen die Kapazitäten, den eigenen Impfstoff in den für eine Massenimpfung benötigten Mengen herzustellen, beklagt Nowaja Gaseta:
„Das [Moskauer] Gamaleja-Institut hat, den indirekten Daten nach zu urteilen, einen durchaus ordentlichen Impfstoff entwickelt, dessen wissenschaftliches Design zumindest dem aus Oxford in nichts nachsteht. Aber dieses Vakzin fällt dem allgemeinen technologischen Niedergang Russlands zum Opfer. ... Die Erklärungen über den Beginn der Massenimpfung klingen nur im Ersten Kanal [des Staatsfernehens] schlüssig, zwischen anderen wichtigen Nachrichten wie der, dass die Deutschen Nawalny selbst vergiftet hätten. Bei Realisten verursachen sie nur nervöses Kichern. Es scheint, als werde unser 'Sputnik'-Impfstoff erst dann abheben, wenn er in einem indischen Reaktor gekocht wird.“
Enorme geopolitische Bedeutung
Für To Vima geht es im Rennen gegen Covid auch um die globale Machtverteilung:
„Wird der Impfstoff zu einem Parameter, der die Entwicklungen in der Post-Covid-Welt bestimmen wird? ... Die Tatsache, dass Ungarn beispielsweise den EU-Haushalt blockiert und ankündigt, den russischen Impfstoff zu bevorzugen, ist wahrscheinlich nicht irrelevant. Die kommenden Wochen werden wahrscheinlich einige erste Hinweise auf die Verhältnisse von morgen geben. … Wer 'die Welt gerettet' haben wird, sei es ein Vertreter des liberalen Westens oder ein totalitäres Regime, wird großen Einfluss gewinnen und in naher Zukunft viel bestimmen.“