Weihnachten im Lockdown: Ein Grund zur Trübsal?
Ganz Europa kämpft mit hohen Infektionszahlen, überall wurden die Regeln in den vergangenen Wochen verschärft. Viele Menschen können Weihnachten nicht so feiern, wie sie es gewohnt sind. In den Kommentarspalten finden sich Tipps für die Feiertage.
Keine Angst vorm digitalen Fest
Christen sollten das Angebot von digitalen Weihnachtsmessen nutzen, ermutigt der Geschäftsmann und Philantrop Adeem Younis in The Independent:
„Virtuelle Feste sind kein Grund zur Sorge. Was ihnen an körperlicher Nähe fehlt, machen sie an geistiger Verbundenheit wett. Ich habe viele muslimische Menschen getroffen, die mir erzählten, dass sie Ramadan und Eid noch nie als so bedeutsam und besonders empfunden haben, wie in diesem Jahr. Es ist wichtig, dass wir uns alle bemühen, virtuelle Festlichkeiten anzunehmen. In Krisenzeiten brauchen wir mehr denn je ein Gemeinschaftsgefühl. ... Natürlich gibt es nichts Schöneres als körperliche Nähe, um unsere Herzen und unseren Geist zusammenzubringen. Eines Tages werden wir in Kirchenbänken und Moscheen wieder Schulter an Schulter stehen. Bis dahin kann die Digitalisierung den Glauben am Leben erhalten.“
Für Gesprächsstoff ist gesorgt
Tygodnik Powszechny empfiehlt, heikle Themen unter dem Weihnachtsbaum nicht auszusparen:
„Die Ereignisse der letzten Monate zeigen, dass die jahrhundertealte Meinung, dass Jarosław Kaczyński ein Genie und ein politischer Visionär sei, veraltet sind. … Wir politischen Tiere sollten das laut sagen, natürlich auch an Heiligabend. In dieser Wunde herumzustochern ist zwar schwierig, aber es lohnt sich. … Wenn sich polnische Familien, die in ihrer Weltanschauung geteilt sind, an Heiligabend zum gemeinsamen Abendessen versammeln, ergeben sich somit ausgezeichnete Fragen und Themen für Gespräche.“
Von der Unvergänglichkeit handgeschriebener Karten
Die niederländische Post verzeichnet in diesem Jahr eine Rekordzahl an versendeten Weihnachtskarten. Eine Karte ist wie eine Umarmung, zitiert NRC Handelsblad die Schriftstellerin Katherine Mansfield und schreibt dazu:
„Es ist kein Wunder, dass das Bedürfnis nach einer Umarmung groß ist. Zu Recht ist der Brief oder die Karte dafür eine Lösung. ... Jeder handgeschriebene Brief, jede Karte ist ein unerwartetes - und vor allem fühlbares - Geschenk. Mehr als bei einer Messenger-Nachricht, SMS oder E-Mail wurde darüber nachgedacht. Man hat Papier gesucht, einen Umschlag, eine Briefmarke. ... Und vor allem hat sich der Absender vorher überlegt, welche Gedanken er dem Empfänger übermitteln will. Bevor er zu schnell auf 'Senden' drückt. Deleten geht nicht.“
Es könnte viel schlimmer sein
Le Temps rät, einen Blick in die Geschichte zu werfen:
„Wenn wir uns auf das zu Ende gehende Jahr konzentrieren, gibt es Grund zur Klage. Wenn wir allerdings auf andere, nicht so weit zurückliegende Zeiten zurückblicken und die Situation vergleichen, sollten wir die Dinge relativieren und vor allem wieder Mut fassen, denn dort bieten sich schöne Beispiele für Resilienz. Vor 100 Jahren erholte sich Europa von einem schrecklichen Krieg, der mehr als 18 Millionen Menschenleben gefordert hatte, und fast jede Familie trauerte. Und doch war es der Beginn einer Phase der Euphorie, die man die Roaring Twenties nannte, und eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs. ... Begehen wir Weihnachten also mit Würde. Ein Weihnachten, das nicht eine Botschaft des Todes, sondern, im Gegenteil, der Geburt ist. Das nicht eine Botschaft des Konsums, sondern der Freude ist, und das Hoffnung bringt.“
Mit Schal und Mütze ans Lagerfeuer
Esten sind raues Klima gewöhnt und können das Fest auch mal draußen verbringen, findet Eesti Päevaleht:
„Da viele estnische Familien über Weihnachten gern aufs Land fahren, kann man der Freiluftempfehlung [der WHO] gut nachkommen. Wir wissen zwar noch nicht, wie das Wetter wird, aber zum Mitsommerfest werden wir ja meistens auch nicht vom Wetter verwöhnt. Richtige Kleidung und ordentliches Lagerfeuer - so kann man das Weihnachtsfest auch draußen feiern, wenn das Wetter nicht allzu schlimm ist. Es ist schlau, Weihnachten heuer zurückhaltender zu feiern als sonst: weniger in Einkaufszentren nach Geschenken und Weihnachtsessen jagen, weniger Verwandte und andere nahe Kontakte besuchen.“
Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit
Auf die Vernunft der Bürger pocht die Kleine Zeitung:
„Selbst wenn es juristisch gestattet ist, dass zu Heiligabend 'zehn Personen aus zehn Haushalten' zusammenkommen, bleibt es dennoch eine exorbitante Blödheit. Am Klügsten wäre es, das Fest der Liebe heuer nur im Kernhaushalt zu begehen - also ohne jegliche Art von Verwandtenbesuch und ohne sonstige Gäste. Ein unverschämtes Ansinnen? Ja, zweifellos. Es wird Familienaufstellungen geben, wo das - aus welchen Gründen immer - absolut nicht zumutbar ist. Die sollen sich dann bitte gerne treffen. ... Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, heißt es bei Hegel - lasst uns also frei sein!“
Einer Industrienation unwürdig
Deutschland bekommt nun die dramatischen Folgen der Schlamperei in den letzten Monaten zu spüren, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Noch immer sind die Testkapazitäten ... nicht ausreichend, die Teststrategie ist erratisch. ... Die Einschränkungen des 'Lockdown light' aus dem November wurden ... bestenfalls lasch kontrolliert. Wenn es ein Symbolbild für das Versagen der deutschen Politik gibt, dann sind es die Schüler, die mit Mützen, Schals und dicken Jacken bei offenen Fenstern in den Klassenzimmern sitzen müssen, weil eine der weltweit führenden Industrienationen es nicht geschafft hat, den Sommer zu nutzen und einen einigermassen pandemiegerechten Schulbetrieb sicherzustellen. Nicht wegen des unterschätzten Virus, sondern wegen dieser Versäumnisse wird neben einer Welle von neuen Infektionen auch eine enorme Welle von Kosten über Deutschland hereinbrechen - menschlich wie wirtschaftlich.“
Geregelt einkaufen statt heimlich Kaffee trinken
In Slowenien gelten seit zwei Monaten harte Beschränkungen, doch deren Wirksamkeit lässt zunehmend nach. Delo drängt auf eine Kursänderung:
„Es ist höchste Zeit, dass den Menschen Einkäufe erlaubt werden. Nicht nur wegen dringender Reparaturen und des Kaufs von saisonaler Kleidung, sondern auch, weil sie auf diese Weise ein oder zwei Stunden in einer kontrollierten Umgebung verbringen, in der die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung gering ist. Das ist besser, als wenn sie sich zu Hause langweilen und heimlich mit den Nachbarn einen Kaffee trinken. … Die zuständigen Behörden sollten Regeln aufsetzen, die den Menschen Bewegung im Freien, in der Natur und vielleicht sogar im Schnee ermöglichen. Und anstatt nur nüchterne Beschränkungen zu beschließen, sollten sie die Bürger ermutigen, das Risiko der Ausbreitung des Virus zu verringern.“
Das Dilemma des verwirrten Bürgers
Wie der Bürger sich fühlt, wenn er nach dem vorweihnachtlichen Shoppen die abendlichen Fernsehnachrichten einschaltet und die neuen Todeszahlen hört, beschreibt La Repubblica:
„Da sorgt er sich. Den Bildern nach zu urteilen, waren es zu viele Menschen [in den Innenstädten]. So kommen wir da nicht raus, denkt er. Und an diesem Punkt weiß er nicht mehr, wer er ist: eine Art lebender Widerspruch. … Der Mensch ist gestrandet in den Untiefen des weihnachtlichen Dilemmas. Orientierungslos zwischen erneuten Mahnungen zur Vorsicht und der Aufforderung, den Handel aufrechtzuhalten, fühlt er sich schuldig und unschuldig zugleich. … Er wartet darauf, dass ihm jemand sagt, ob er falsch oder richtig liegt. Und wenn er gleichzeitig ein bisschen Recht und ein bisschen Unrecht hat, ist es diesmal nicht unbedingt seine Schuld.“
Lasst uns ein wahres Weihnachten wagen!
Eine Chance sieht in dieser Weihnachtszeit Theologe Arnaud Join-Lambert in La Libre Belgique:
„Lasst uns, da unsere Verwandten vielleicht weit weg von uns festsitzen werden, ein nicht normales Weihnachten wagen: Nachbarn feiern mit einem Abstand von 1,5 Metern und bieten einander Suppe, Tarte, Kebab, Brezel oder Glühwein an. Jeder Haushalt, egal wie groß oder klein, kann zum Beispiel eine Kerze aufstellen, damit sich Lichterketten der Hoffnung bilden in unserem so tristen Lockdown-Alltag. ... An diesem nicht normalen Weihnachten 2020 wird das Feiern das Teilen sein, in seiner Einfachheit und in der Sorge um unsere Verwandten und Nachbarn. Unseren westlichen Gesellschaften bietet sich zudem die Gelegenheit, den Sinn des Fests jenseits der Überfrachtung mit materialistischem Konsum neu zu entdecken. Dies wäre dann wie eine Rückkehr zur eigentlichen Normalität, zu einem authentischen Weihnachten.“
Deutliche Führung, bitte!
Angesichts stark steigender Infektionszahlen werden die aktuell geltenden Maßnahmen in den Niederlanden über Weihnachten nicht gelockert. Publizistin Marcia Luyten vermisst in ihrer Kolumne in De Volkskrant ein beherztes Durchgreifen der Regierung:
„Der Staat, der fest entschlossen Dutzende Milliarden auf den Tisch legt, um Unternehmen zu retten, bleibt undeutlich und freizügig, wenn es ums Beherrschen der Pandemie geht. ... [Premier Mark] Rutte appelliert an die Selbstbeherrschung der Bürger und nennt die mangelhafte Durchsetzung der Regeln 'pragmatisch'. Aber in einer Pandemie ist nicht halbherzige Selbst-Steuerung, sondern deutliche Führung pragmatisch. Rutte und sein Kabinett sind die einzigen, die Rücksichtslosigkeit bestrafen und die moralischen Risiken reduzieren können.“
Merkwürdiger Gesinnungswandel
Auch in Ungarn soll es zu Weihnachten keine Lockerungen geben. Magyar Hang wundert sich darüber, zumal es keine offizielle Begründung gibt:
„Diese Entscheidung hat Viktor Orbán nach Konsultationen mit Experten getroffen. Vor Kurzem hatte er sich im Parlament über Expertenmeinungen noch so geäußert, dass es eine Frage des Geschmacks sei, ob und inwiefern man diesen glaube. Daher kann man nun nur darüber spekulieren, warum Orbán diese Entscheidung traf. Hat er den Lockdown [im Herbst] erst zu spät verhängt? ... Oder sagt ihm sein Geschmack gerade, dass er den Virologen glauben soll? Oder hat [der regierungsnahe Think-Tank] Századvég angefangen, Umfragen ausgerechnet über die Pandemiebekämpfung zu realisieren?“
Jetzt hilft nur der Hammer
In Deutschland hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina die Politik aufgefordert, ein massives, restriktives Maßnahmenpaket zu schnüren: Schulen zu ab kommender Woche, harter Lockdown bis zum 10. Januar. Der Tagesspiegel hält das für alternativlos:
„Wir fragen, wieder mal: Ist das das Richtige? Ginge es nicht auch anders, besser? Es ginge. ... [Doch die] solideste Evidenz bezeugt bislang allerdings lediglich unsere Unfähigkeit, in ausreichendem Maße gezielt, ausgewogen, flexibel, solidarisch, wissenschaftsbasiert und Wissenslücken anerkennend, logistisch-technologisch effektiv und in der Kommunikation verlässlich zu reagieren. ... Die Menschen wollen sich wieder sicherer fühlen, die Wirtschaft auch. Wenn wir dieses Ziel nicht intelligent erreichen können, dann müssen wir es ganz unweihnachtlich mit ordentlichem Draufhauen versuchen.“
Schöne Bescherung
Új Szó glaubt nicht, dass sich die Unberechenbarkeit der Pandemiebekämpfung in der Slowakei bis Weihnachten verändern wird:
„Fast die ganze slowakische Presse, die Bevölkerung und sogar Präsidentin Zuzana Čaputová plädieren seit mehr als einem halben Jahr dafür, dass die Entscheidungen über die Maßnahmen von Experten getroffen und nicht alle fünf Minuten verändert werden. Außerdem fordern sie eine transparente, klare Kommunikation. ... Doch zum Nikolaus hat man von der Regierung nur Chaos und Frustration bekommen, und so wie die Sache jetzt aussieht, bekommen wir von ihr zu Weihnachten noch einen Lockdown.“
Tanken ja, Wischwasser nachfüllen nein
In Lettland gelten seit wenigen Tagen neue Regeln, die vor allem Geschäfte betreffen. So dürfen viele Produkte am Wochenende nicht mehr verkauft werden. Neatkarīgā vermisst jegliche Logik:
„Von den neuen Beschränkungen sind alle betroffen, sogar die kleinsten Geschäfte in der tiefsten Provinz. Glücklicherweise dürfen Tierfutter, Zeitungen und Fahrkarten noch ohne Einschränkungen verkauft werden. ... Doch Handschuhe, Socken und Stiefel sind mit großen Polyethylen-Folien abgedeckt. Man kann keine Desinfektionsmittel kaufen, völlig absurd. An den Tankstellen keine Waren rund ums Auto. Wie ist das zu verstehen? Der Mann, dem das Scheibenwaschwasser ausgeht, oder der eine neue Lampe bräuchte, tankt und fährt dann im Dunkeln gegen einen Baum? ... Es gibt schon für alle Verkaufsräume Beschränkungen hinsichtlich der Kunden pro Quadratmeter. Und um Bremsflüssigkeit zu kaufen, braucht man vielleicht eine Minute.“