Ein Jahr der Solidarität?
Schon zu Beginn der Pandemie war allenthalben zu lesen und zu hören, dass die Menschheit eine solche Krise nur gemeinsam bewältigen könne. Doch von der anfänglichen Solidarität und Opferbereitschaft scheint nicht viel übrig. Pressestimmen lassen erahnen, wie viel die Ernüchterung und Erschöpfung letztlich auch mit politischen Versäumnissen zu tun haben.
Statt Gemeinschaft kam das Misstrauen
Der Schriftsteller Tommy Wieringa stellt in seiner Kolumne in NRC Handelsblad bitter fest:
„Covid-19 wurde politisiert, wie das so schön heißt. Etwas, was uns alle bedrohte und vereinte, wurde zum Konfliktstoff. Die innige Identifikation mit der eigenen Meinung erstickte schnell die Fähigkeit zu relativieren und den freien Gedankenaustausch. Das Virus verstärkte nicht nur die üblichen Gegensätze zwischen Gruppen, sondern entfremdete auch Freunde und Familien voneinander. Pflegepersonal empfing nicht länger Applaus, sondern Schimpfworte; Wissenschaftlern wurde nicht länger vertraut, sondern sie wurden bedroht. ... Die Geduld mit den Schwächeren, den Kranken und Älteren war überraschend schnell am Ende. Warum sollte die Mehrheit der Gesunden sich anpassen? ... Das war es nicht wert. “
Ohne globalen Zusammenhalt geht es nicht
Die Pandemie sollte allen eine wichtige Erkenntnis aufgedrängt haben, meint der Autor Adrian Onciu in Mediafax:
„Das tödliche Virus ist der perfekte Terrorist: Man sieht es nicht, man hört es nicht, man spürt es nicht! Du würdest alles dafür tun, dass es verschwindet; auf Rechte und fundamentale Freiheiten verzichten. … Du wärst bereit, von überall her Hilfe zu empfangen, um dein Weiterleben zu sichern. Ganz normal. Wir alle wollen bis ins hohe Alter leben. Doch die Pandemie ist nichts, womit man spielt. Man kann auch nicht allein dagegen kämpfen. Ob man nun USA, Russland oder China heißt - egal, wie stark Du bist, Dein Überleben hängt von den globalen Anstrengungen ab, die aufeinander abgestimmt sind. ... Nur zusammen wird es uns gelingen, den neuen (und perfiden) Terroristen zu liquidieren.“
Primat der Wirtschaft zeigt Schwächen
Die Folgen der Liberalisierung der letzten Jahre sind 2020 für viele Schweden schmerzhaft sichtbar geworden, betont Aftonbladet:
„Die Pandemie hat uns neue Einsichten in die praktische Bedeutung von Solidarität vermittelt. ... In den letzten Jahrzehnten hat sich die Entscheidungsgewalt von der Politik auf die Wirtschaft verlagert. Privatisiert wurde in den Bereichen Gesundheitswesen, Schule und Altenpflege, bei Bahn, Post und Wohnungsbau. Den Politikern bleibt schließlich bei wichtigen sozialen Fragen wenig zu sagen, den Kurs geben die Unternehmen vor. ... Das einzige, worüber wir dann letztlich noch streiten, sind Kultur, Normen und Identitäten, wenn die ökonomische Macht in Unternehmen und internationalen Abkommen eingeschlossen ist. ... Dieses Jahr hat uns gezeigt, wie wir voneinander abhängen und dass wir einander brauchen.“
Das Mitleid ist verstummt
Der Journalist Domenico Quirico erinnert an das Schicksal der Geflüchteten, die derzeit in Bosnien und Herzegowina im Schnee frieren, und für die sich keiner zuständig fühlt. Er klagt in La Stampa:
„Wir glaubten an die Solidarität der Armen mit den Armen, an das Mitleid derer, die, erschüttert von Enttäuschungen und Bitterkeit, Unglück erfahren haben, mit anderen, die es durchmachen. Nicht mehr. Auch dieser Trost wird uns genommen, er verschwindet, versiegt. Denn dreitausend Migranten irren durch das Schneegestöber in Bosnien, auf der Suche nach einem Weg, der sie in das Europa bringt, von dem sie träumen: dreitausend ohne Obdach, ohne Zuflucht; isoliert, verleugnet, abgelehnt. … Bosnien ist ein Memento der Möglichkeit, immer wieder in das Grauen zurückzufallen. … Auch dort ist das Mitleid verstummt, sprachlos. Hass findet leichter Worte.“