Türkei verlässt Istanbul-Konvention - was folgt?
Nach dem Rückzug der Türkei aus dem Europarats-Abkommen gegen Gewalt an Frauen üben Politiker und Menschenrechtsorganisationen in und außerhalb der Türkei heftige Kritik. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte Ankara auf, den Beschluss zurückzunehmen: Der Austritt aus der Konvention von 2011 sende eine gefährliche Botschaft an die Welt.
Ein gefährlicher Dammbruch
Die regierungsnahe Kolumnistin Nagehan Alçı fürchtet, dass der Austritt aus der Konvention erst der Anfang von vielen weiteren Benachteiligungen für Frauen ist und schreibt in Habertürk ungewöhnlich kritisch:
„Dieselbe Lobby wird als zweiten Schritt alles in Bewegung setzen, damit die Regelung der Unterhaltszahlungen geändert wird. Danach wird sie fordern, dass das Gesetz aufgehoben wird, das einen Wohnungsverweis für den gewalttätigen Mann vorsieht. In einem vierten Schritt wird sie versuchen, eine Einmischung der Justiz bei häuslicher Gewalt zu verhindern. ... Die Unterschrift, die dafür sorgte, dass die Istanbul-Konvention aufgekündigt wird, öffnet für all das die Tür. ... Mein verehrter Präsident, haben Sie diese Unterschrift guten Gewissens gesetzt? “
Rückzugsgefecht des Neotraditionalismus
Die Islamforscherin Alina Isak Alak sieht den Austritt in einem Gastbeitrag für Adevărul als Zeichen der Schwäche des Erdoğan-Regimes:
„Aus der Geschlechterperspektive förderte die AKP als konservative und nationalistische Partei konstant eine neotraditionalistische Ideologie im Stil der Muslimbruderschaft, die auf der Wahrung traditioneller Geschlechterrollen mit geringen, kulturell opportunistischen Justierungen basiert. ... Doch die Frauen in der Türkei setzen ihren Protest fort - und ihren ungleichen Kampf gegen ein patriarchales, autoritäres Regime, dass durch seine Entscheidung entlarvt, dass es Einfluss und Macht über einen Großteil der Bevölkerung eingebüßt hat.“
Die Reaktionären machen mobil
Wenn Fortschritte erkämpft werden, gibt es immer auch Gegenbewegungen, analysiert Polityka:
„Vor unseren Augen bildet sich ein globaler 'Anti-Gender-Block'. ... Sein erster Ausdruck sind internationale Koalitionen, die fortschrittliche Formulierungen in UN-Dokumenten angreifen und sich gegen Abtreibung, sexuelle Selbstbestimmung und sogar gegen den Schutz vor Gewalt in der Familie einsetzen. ... So wie wir einst das Ausbeutungsparadigma der Klassengesellschaft hinter uns gelassen haben, geben wir heute die Vorstellung auf, dass einem der Geschlechter von Geburt an das Privileg zusteht, das andere auszubeuten. Wie im 19. Jahrhundert stößt dieser Befund auf heftigen politischen Widerstand und führt zu reaktionären, antiprogressiven und frauenfeindlichen Koalitionen.“
Aufruf zu Gewalt und Mord
Die Publizistin Bascha Mika zeigt sich in der Frankfurter Rundschau entsetzt:
„Schlagt sie! Vergewaltigt sie! Tötet sie! Warum hat der türkische Präsident Erdoğan nicht gleich mit einer Werbekampagne zur Gewalt gegen Mädchen und Frauen aufgerufen? Hätte sich das im Kern von seiner Kündigung des Istanbul-Abkommens unterschieden? Wer die Konvention gegen Gewalt an Mädchen und Frauen verlässt, leugnet deren Recht auf Leben und Unversehrtheit. Erdoğans Schritt wird all die aggressionsgeladenen Väter, Ehemänner und Brüder nochmal ermuntern, patriarchalen Machtanspruch und Gewaltfantasien auszutoben. Bis zur Liquidierung der Opfer. Konsequenzen? Müssen die Täter in Zukunft noch weniger fürchten als bisher.“
Abschied aus der westlichen Wertegemeinschaft
Für den Tages-Anzeiger ist der Schritt Ankaras ein zweifaches Debakel:
„Einmal für die Sache der Frauen in der Türkei. Und zum Zweiten für das ganze Land, das sich nun vollends aus der ohnehin immer fragileren Wertegemeinschaft mit Europa und den USA verabschiedet. ... Weder angebliche kulturelle Eigenheiten noch vermeintlich islamisch-religiöse Vorgaben können diesen Schlag ins Gesicht der modernen türkischen Frau rechtfertigen. Sie soll sich als das begreifen, was sie in den Augen beinharter Islamisten und ewiggestriger Traditionalisten immer war und für immer bleiben soll: Mensch und Bürgerin zweiter Wahl.“
Auf der Suche nach islamistischen Verbündeten
Wahltaktik vermutet T24 hinter dem Schritt Erdoğans:
„Der Grund sind die [islamistische] Saadet-Partei und muslimische Orden, von denen er sich einen Beitrag zu seiner Wiederwahl erwartet. Man kann davon ausgehen, dass die AKP die nächste Wahl nicht alleine gewinnen kann. Ja, es ist noch nicht einmal garantiert, dass sie an der Macht bleiben kann, selbst mit Unterstützung der [ultranationalistischen] MHP. ... So entschied man, aus der Istanbul-Konvention auszusteigen. Bloß damit die Saadet Partei dem Wahlbündnis beitritt oder es unterstützt und bloß damit die Orden, die Frauen als Eigentum des Mannes betrachten, ihre Unterstützung nicht zurückziehen.“
Warschau wird es gefallen
Auch in der EU ist die Konvention nicht in allen Ländern unbestritten, wirft La Stampa ein:
„Warschauer Konvention. So würden polnische Konservative gern einen neuen Vertrag nennen, der die Istanbul-Konvention 'deutlich verbessere'. ... Die Regierung behauptet, die Hauptursache für häusliche Gewalt sei nicht die strukturelle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen (die Prämisse der Konvention), sondern die 'Gender-Ideologie' und die Auflösung traditioneller Ehen. ... Sollte Polen aus der Istanbul-Konvention austreten, wäre der nächste Schritt die Schaffung einer regionalen Allianz in Mittel- und Osteuropa, die die Rechte von Frauen und LGBT-Menschen in der EU weiter einschränken könnte. … Nun richten sich alle Augen auf die Länder, die die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert haben, darunter Bulgarien, Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Lettland und Litauen.“