Weltpolitik zu Nahost: Zu passiv, zu aggressiv?
Während sich der Uno-Sicherheitsrat auch in seiner vierten Dringlichkeitssitzung zum Konflikt um Gaza nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen konnte, sind einzelne internationale Akteure aktiv geworden. Die USA forderte Israel zur Deeskalation auf, China lud beide Parteien zu Verhandlungen ein, und Erdoğan schimpfte mit drastischen Worten auf Israel und den Westen. Europas Presse analysiert.
Schweigen und Ohnmacht
Visão kritisiert den Umgang der internationalen Politik mit Konflikten:
„Die letzten Tage in Israel und Palästina waren vielsagend, was die Diskrepanz zwischen Worten und Taten betrifft. Trotz mehreren Sitzungen gelang es dem Uno-Sicherheitsrat nicht, eine einfache Erklärung zur Verurteilung von Aggressionen und Kriegshandlungen abzugeben. ... Die USA blockierte alle Bemühungen, und das, obwohl Joe Biden versprochen hatte, Multilateralismus und Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Außenpolitik zu rücken. ... Dieses ewige Hin und Her ermöglicht es, dass das 'Schweigen' der Stärksten die Straflosigkeit aufrechterhält und die Gräueltaten weitergehen. ... Das sollte uns alle in Verlegenheit bringen - ob mit Blick auf Gaza oder auf Burma. Es schafft auch ein Gefühl der Ohnmacht unter denen, die nicht aufgeben, für die Menschenrechte zu kämpfen, ohne versteckte Interessen.“
Bedingungsloser Rückhalt der USA ist passé
Mit der israelkritischeren Haltung der Biden-Administration werden die Karten im Nahostkonflikt zumindest ein Stück weit neu gemischt, erklärt Radio Kommersant:
„Bedingungslose Unterstützung, wie seitens der vorherigen US-Administration, wird es definitiv nicht geben. Das wird durch den Umstand gefördert, dass Netanjahu es schon 2015 fertiggebracht hat, sein Verhältnis zur Führung der Demokratischen Partei zu ruinieren. Damals hat er über den Kopf von Obama und Vizepräsident Biden hinweg sich das Recht erkämpft, im Kongress aufzutreten, wo er gegen die Unterzeichnung des Atomdeals mit Iran agitierte – an dessen Wiederbelebung die Biden-Administration nun arbeitet.“
Arabische Staaten haben Angst vor Iran
Die Palästinenser können keine Hilfe aus der Nachbarschaft erwarten, glaubt Phileleftheros:
„Die arabischen Staaten haben nicht die Absicht, den Palästinensern zuliebe eine Konfrontation mit Israel zu suchen, deshalb haben sie nur lauwarme Unterstützungsbekundungen abgegeben. Sie beschränken sich auf Forderungen nach einem Ende der Gewalt, ohne ein Wort über Vergeltungsmaßnahmen zu sagen oder eine entschlossene Haltung zu zeigen. … Teherans wachsender Einfluss hat neue Fakten geschaffen. Alle Länder in der Region haben Stellung bezogen. Und da Israel ebenfalls gegen den Iran ist, wird es für sie schwierig sein, sich gegen Israel zu stellen, auch wenn dies bedeutet, die Augen vor dem Geschehen in den palästinensischen Gebieten zu verschließen.“
China beginnt mitzumischen
Peking entwickelt sich im Nahostkonflikt vom Zuschauer zum Akteur, beobachtet Ilta-Sanomat:
„China hat Israelis und Palästinenser zu Verhandlungen nach Peking eingeladen. … Auch wenn es keine Reaktion auf die Einladung geben sollte, so zeigt sie doch, dass China im Nahen Osten aktiv wird. Mit Israels Erzfeind Iran hat China Handelsbeziehungen geknüpft. In den arabischen Ländern ist Chinas Geld willkommen. Bisher war China in dem Konflikt zwischen Israel und Palästinensern eher Zuschauer. Israel muss China aber trotzdem zuhören, da es für Israel ein wichtiges Exportland und Investor ist. Für Israel ist es von Vorteil, wirtschaftlich nicht nur von den USA abhängig zu sein. China wiederum kommt es gelegen, wenn Israel von ihm abhängiger wird.“
Das ist kein Verbündeter mehr
Vor Erdoğans aggressiver Rhetorik warnt Politologe Angelo Panebianco in Corriere della Sera:
„Wer glaubt, dass das türkische Vorgehen nur den Nahen Osten betrifft und Europa nicht tangiert, der irrt gewaltig. Was dort passiert, hat hier Konsequenzen. ... Wenn das Mittelmeer dauerhaft zwischen den Türken und den Russen aufgeteilt ist, werden nichteuropäische (und zwar europafeindliche) Hände die Kontrolle über lebenswichtige Energiequellen sowie die Regulierung der Migrationsströme haben. … Erdoğans Ambitionen gehen zudem über die Grenzen des Nahen Ostens hinaus. Das zeigen der Streit mit Griechenland um die Kontrolle der Gasfelder im östlichen Mittelmeer und die massive Intervention auf dem Balkan, wo die Türkei wirtschaftliche Investitionen und religiöse Indoktrination verbindet.“
EU bekommt die Chance für einen Neustart
Nun muss die EU eine diplomatische Offensive starten, fordert Der Standard:
„Eine auf europäischer Ebene konzertierte Friedensinitiative war an der Seite der Trump'schen US-Nahostpolitik nur schwer möglich. Nun ist es allerdings an der Zeit, sich wieder mit den USA zusammenzutun und gemeinsam Druck auf beide Konfliktparteien auszuüben. Das ist sich auch die 'geopolitischste aller EU-Kommissionen' [Ankündigung von der Leyens zu ihrem Amtsantritt] schuldig, die bisher sehr ruhig war. Die Chancen für einen Neustart der diplomatischen Bemühungen stehen jedenfalls nicht schlecht mit einem neuen US-Präsidenten und einem möglichen Regierungswechsel in Israel.“
Erdoğan weist den Weg
Auf einen anderen Akteur setzt die regierungstreue türkische Zeitung Akşam:
„Die Gespräche, die Präsident Erdoğan in den letzten Tagen mit 19 Staatschefs geführt hat, könnten zum Katalysator werden, der eine Bewegung des globalen Gleichgewichts gegen Israel ermöglicht. Es wird die hoffnungsreichste Entwicklung zur Linderung der Not der palästinensischen Muslime sein, wenn jetzt alle als Einheit auftreten und diese Initiativen unterstützen. So wird es möglich, den Frieden auch ohne den UN-Sicherheitsrat zu gewährleisten.“
Das Drehbuch ist immer das gleiche
Der Konflikt ist von außen kaum zu stoppen, weil er seiner eigenen Logik folgt, befürchtet Der Tagesspiegel:
„Die Hamas und Israels Regierungschef ... richten sich nach einem Drehbuch, das man aus früheren Eskalationen kennt, etwa 2014. Die Hamas nutzt die Zwischenkriegszeit, um ihre Vorräte an Raketen und anderen Waffen aufzufüllen ... . Hat die Hamas den Großteil ihrer Raketen verschossen, erklärt sie ihre Bereitschaft zur Waffenruhe. Doch darauf geht Israel nicht ein, weil das militärische Ziel seiner Streitkräfte nun ist, die Infrastruktur der Hamas zu dezimieren ... . Israel wird einer Waffenruhe erst zustimmen, wenn es diese Ziele weitgehend erreicht hat.“
Der Waffenstillstand wird kommen, der Frieden nicht
Wenig Hoffnung in die internationalen Bemühungen um eine Lösung setzt auch Naftemporiki:
„Der UN-Sicherheitsrat kommt erneut zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen, während die USA weiterhin eine gemeinsame Erklärung blockieren, die ein Ende der Gewalt fordert. ... Derzeit gibt es keinen Plan. Nur wenige glauben an eine Lösung, viele versuchen zu beweisen, dass der Konflikt unlösbar ist. Wie in den Jahren 2008, 2012 und 2014 werden das Blutvergießen und die Zerstörung vor dem Waffenstillstand fortgesetzt. Der Waffenstillstand wird kommen, aber er wird den Status quo ante wiederherstellen. Der Waffenstillstand wird kommen, der Frieden noch nicht.“
Führungskrise auf beiden Seiten
Wenig Hoffnung auf eine diplomatische Lösung hegt Corriere del Ticino:
„Kennzeichnend für die aktuellen Auseinandersetzungen ist, dass nur die Hamas, die international weitgehend als Terrorgruppe angesehen wird, die Palästinenser vertritt. Die direkte Folge davon ist, dass keine der beiden Seiten international Gesprächspartner hat. Weder der israelische Premier Benjamin Netanjahu, der von seiner eigenen Unfehlbarkeit felsenfest überzeugt ist, zu Hause aber mit politischen und rechtlichen Problemen zu kämpfen hat. ... Noch die palästinensische Seite, die sich in einer echten Führungskrise befindet, mit dem palästinensischen Präsidenten Abu Mazen [Mahmud Abbas], auf den nicht mehr gehört wird (auch wenn Biden mit ihm gesprochen hat) und dem daher die Fähigkeit zur Vermittlung gegenüber der Hamas fehlt.“
Zynischer Opportunismus schürt Gewalt
Die politischen Protagonisten auf beiden Seiten glauben, von einer Eskalation profitieren können, schreibt der Publizist und Arabist Chams Eddine Zaougui ernüchtert in De Standaard:
„Israel nutzt die Gewalt, um eine Art modernes Sparta zu rechtfertigen: eine militarisierte Gesellschaft. ... Für militante palästinensische Gruppen ist der Widerstand gegen Israel ihre Raison d'être und eine Möglichkeit, sich von ihrem säkularen Rivalen zu unterscheiden, der Palästinensischen Autorität, die sie als schwach und unterwürfig betrachten. ... Dieser politische Opportunismus - der in diesem offensichtlich ewigen Konflikt eine größere Antriebskraft ist als eiskalter Hass - hat Folgen. Bürger bezahlen einen schrecklichen Preis für zynische Berechnungen und die Hartnäckigkeit ihrer Führer. “
Ausgerechnet Hamas stärkt Netanjahu
Die Raketenangriffe kommen für Israels Premier genau zur rechten Zeit, meint Club Z:
„Mit ihrem törichten Verhalten gibt die Hamas Netanjahu die goldene Chance, ungeschoren aus der politischen Krise zu kommen, in der er sich wegen Korruptionsvorwürfen und der Unfähigkeit, nach vier aufeinander folgenden Parlamentswahlen eine Regierung zu bilden, befindet. Er bekommt erneut die Chance, sich als starker Führer zu positionieren, der die Sicherheit des israelischen Volkes und des jüdischen Staates vor dem vom Iran unterstützten Terror der Hamas und des Islamischen Dschihad verteidigt.“
Globale Uneinigkeit nützt israelischer Regierung
Im Uno-Sicherheitsrat wurde die Gewalt zwar einhellig verurteilt, es kam aber nicht zu einer gemeinsamen Erklärung. Dass Uno und EU intern uneins sind, trifft die Palästinenser hart, klagt The Irish Times:
„In der aktuellen Krise, aber auch sonst wirkt sich das Versäumnis der internationalen Organisationen, mit einer Stimme zu sprechen, zum Vorteil der israelischen Regierung aus. Diese entgeht dadurch globaler Kritik und erhält mehr Handlungsspielraum. Und es bedeutet, dass es einem Großteil der handelnden Akteure auf internationaler Ebene unmöglich ist, eine Krise wie diese zu beeinflussen. ... Joe Bidens Regierung hat nicht einmal Interesse an einem Friedensprozess vorgetäuscht. ... So wenig Druck wie jetzt, Kompromisse einzugehen, hatte Israel schon seit Jahrzehnten nicht.“
Weg von der Idee des jüdischen Staats
Eine gemeinsame Föderation ist die einzige verbleibende Lösung, den gordischen Knoten dieses Konflikts zu lösen, meint Jutarnji list:
„Israel hat die Perspektive zweier paralleler Staaten zerstört. Auf dem, was es bereit ist, den Palästinensern zu überlassen, lässt sich kein eigenständiger Staat aufbauen. Auch Jordanien und Ägypten denken nicht mehr daran, sich Palästina mit Israel zu teilen und sich um die frustrierten Palästinenser zu kümmern. Das haben sie einmal getan und sich die Finger verbrannt. Die einzige Alternative ist ein gemeinsamer Staat, föderativ oder wie auch immer aufgebaut. Aber er müsste allen Menschen ein Stimmrecht einräumen, und das würde bedeuten, dass Israel selbst den ethnisch-religiösen Ast durchgesägt hätte, auf den es sich gestützt hat.“