Minsk lässt Migranten passieren: Notstand in Litauen
Nach der Flugzeugkaperung über Minsk und anschließenden EU-Sanktionen sind zuletzt täglich deutlich über 100 Menschen vor allem aus dem Irak, Syrien und Russland über die belarusische Grenze nach Litauen gelangt. Machthaber Lukaschenka hat inzwischen bestätigt, Migrationsströme aus Protest nicht mehr zu unterbinden. Litauen hat den Notstand ausgerufen und errichtet nun seinerseits einen Grenzzaun.
Ausgrenzung fällt auf uns selbst zurück
Der nun wieder aufkeimende Fremdenhass kann Litauen mehr schaden als die Flüchtenden selbst, mahnt Migrationsforscherin Indrė Balčaitė in Lrt:
„Kann man in diesem Chaos leicht entscheiden, welche von den Ankömmlingen Wirtschaftsmigranten sind, ohne ihre Geschichten ausführlich anzuhören? Ist es so schwer zu verstehen, dass in Zeiten der Globalisierung die Menschen leichter merken, wie sehr sich ihr Leben von dem im globalen Norden unterscheidet, und dann dorthin ziehen wollen? Wenn wir diese Menschen, mit denen wir auf keinen Fall Plätze tauschen möchten, auch noch zu Menschen zweiter Klasse machen, dann ist unser Gerede über Menschenrechtsverletzungen in Russland und Belarus wertlos. Wir sollten keine Angst vor Migranten haben, sondern vor dem Hass, und wie er unsere Gesellschaft verändert.“
Vilnius unterstützen
Dagens Nyheter fordert die EU auf, nicht wegzusehen:
„Vor dem Hintergrund Lukaschenkas diktatorischer Methoden ist seine neue Arbeitsweise im hybriden Krieg nicht sehr erstaunlich. Es ist im Interesse der gesamten EU, sich im Kampf gegen das zynische und rücksichtslose Regime in Belarus hinter Litauen zu stellen.“
Toleranz-Lektion für eins der schwarzen Schafe
Ria Nowosti vertritt die These, dass der EU Litauens Migrantenproblem zupasskommt:
„In der EU schützen strenge Regeln die Rechte illegaler Migranten. Das Erstaufnahmeland muss nicht nur komplexe Prozeduren einhalten, sondern den Ankommenden auch akzeptable Lebensbedingungen bieten. Das hat Brüssel gemeint, als es sein Versprechen, zehn Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, präzisierte: Diese seien 'für die Sicherung der Grundbedürfnisse der Migranten' bestimmt. Die EU hat so die Chance, Litauen zu helfen, seinen für ein fortschrittliches Land schändlichen Rassismus und Fremdenhass loszuwerden und seine Toleranz zu steigern - und zwar mittels der Einrichtung einer (vorerst) kleinen arabisch-afrikanischen Community im Lande.“
Sollen sich die Schwergewichte der EU drum kümmern
Der Politologe Valentinas Beržiūnas rät Litauen und Polen in Delfi:
„Eigentlich ist die Lösung ganz simpel: Verabredet mit Polen, die Flüchtenden nach Berlin zu begleiten, wohin sie auch wirklich wollen. ... Die Flüchtlingskrise ist nicht Litauens Sorge, sondern die der EU. Nicht Litauen, sondern die EU hat die Sanktionen gegen Belarus verhängt. Wenn jemand diese Krise lösen kann, dann sind das die Deutschen, Franzosen, Österreicher und Italiener. Nur sie können Putin dazu überreden, dass er Flüchtlinge stoppt oder Lukaschenka dazu aufruft. ... Da entsteht die Frage, ob diese Flüchtlingskrise nicht dazu dient, von den geoenergetischen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin abzulenken.“
Nutzloser, zahnloser Zaun
Delfi ist äußerst skeptisch, was den neuen Grenzzaun anbelangt:
„Für jeden Zaun gibt es eine Leiter, für jeden Stacheldraht eine Schere. Werden die Opritschniki [Handlanger] von Lukaschenka die Migranten damit nicht versorgen? ... Bist du doof, guck mal, wie die Berliner Mauer funktionierte, und auch die tolle Mauer in Israel, die eine Milliarde gekostet hat, oder auch das Beispiel von Ungarn! ... Die Berliner Mauer hätte nicht mal eine alte Oma gestoppt, wenn es keine Schüsse aus der Kalaschnikow gegeben hätte (die Menschen flüchteten aber trotzdem). Die illegalen Grenzüberquerer in Israel wissen auch, dass sie Schüsse riskieren. ... Litauische Grenzbeamte dürfen nicht schießen. Was wird dann dieser teure Zaun bringen?“
Klassischer Bumerangeffekt
Jetzt muss Litauen seine eigene Suppe auslöffeln, bemerkt Lietuvos rytas:
„Als vor einigen Jahren die Flüchtenden Westeuropa überfluteten und die Europäische Kommission dazu aufrief, die Last in der EU brüderlich zu teilen, wie haben die Litauer reagiert? Die Mehrheit sagte, dass Merkel, die sie eingeladen hatte, sich auch um sie kümmern solle. ... Was jetzt in Litauen passiert, ist eine Illustration für das alte litauische Sprichwort: 'Spuck nicht in den Brunnen, aus dem du später selbst trinken musst'. Wir haben gemeckert, dass Westeuropa uns die Afrikaner und die Araber schickt, wollten nicht solidarisch sein, aber jetzt sind wir selbst in Not und hoffen auf die Hilfe der europäischen Gemeinschaft.“
Lukaschenka hat Erdoğan gut studiert
Das ist Minsks Antwort auf die EU-Sanktionen gegen Belarus, glaubt 15min:
„Klar, könnte man die sich anbahnende Migrationskrise schnell lösen, wenn Litauen und belarusische Institutionen zusammenarbeiten würden. Wahrscheinlicher ist aber, dass Lukaschenka sich entschieden hat, dem Vorbild der Türkei zu folgen. Er will die Migrationswellen als Druckmittel gegen die EU und besonders gegen Litauen nutzen. ... Wahrscheinlich hofft man in Minsk, dass die EU ihre Sanktionen im Tausch für eine Rückkehr zur Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenarbeit bei der illegalen Migration mildert und ein neuer Status quo entsteht.“
Mit allen Mitteln dagegenhalten
Radio Kommersant FM hat einen Vorschlag, wie Litauen reagieren könnte:
„An der Grenze wird eine Mauer gebaut, man zieht zusätzliche Einheiten heran. Das kostet Geld, aber die Finanzierung wird zu finden sein, zumal wenn die ganze EU mitmacht. Inzwischen hat Vilnius Tichanowskajas Büro diplomatischen Status erteilt. Das kann man als eine Art Antwort an Minsk werten: Wir lassen nicht von der Unterstützung der Opposition ab, im Gegenteil. Das dürfte nur der Anfang sein, andere Länder sind bereit, dem litauischen Vorbild zu folgen.“
Hoffnung auf europäische Solidarität
Es gibt derzeit keine rechtlichen Mittel, um Belarus von solchen absichtlichen Schritten abzuhalten, schreibt die Jura-Professorin Lyra Jakulevičienė auf Lrt:
„Belarus wäre verpflichtet, die illegalen Migranten, die aus seinem Territorium gekommen sind, zurückzunehmen, wenn es mit Litauen ein Rückführungsabkommen unterzeichnet hätte. Aber so einen Vertrag gibt es nicht. ... Deshalb sollten wir auf weiter steigende Zahlen und die Aufnahme der Migranten aus Belarus vorbereitet sein. Falls die Lage sich weiter zuspitzt, bleibt die Hoffnung auf die Solidarität und Hilfe der EU-Staaten. Ähnlich wie es vor kurzem mit der Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in andere EU-Länder war.“
Nährboden für Angstmacher
Kauno Diena warnt vor Desinformation in Bezug auf die Schutzsuchenden:
„Zelt-Lager sind eine ideale Basis für Informationsattacken. In den Flüchtlingscamps locken die müden und verzweifelten Gesichter den subjektiven Blick der Fotokameras. Und sie sind eine unerschöpfliche Desinformationsquelle. Bestimmt werden die Redaktionen mehrere anonyme Nachrichten bekommen, in denen über Verbrechen in den Camps und Attacken auf einheimische Bewohner berichtet wird. Wie schon 2015 wird die künstlich zugespitzte Flüchtlingskrise auch eine Informationskrise sein, in der es nicht einfach sein wird, die echten politischen Flüchtlinge von den 'Fälschungen' zu unterscheiden und dadurch auch das Schüren von Ängsten zu verhindern.“