Was hat der Einsatz in Afghanistan gebracht?
In Afghanistan hat sich die Sicherheitslage nach dem Beginn des Abzugs der internationalen Truppen am 1. Mai spürbar verschlechtert. Die islamistischen Taliban haben inzwischen die Kontrolle über rund die Hälfte des Landes übernommen. Für Europas Presse Anlass, den Sinn und die Folgen derartiger Militärmissionen zu diskutieren.
Aus der Niederlage lernen
Das Scheitern in Afghanistan sollte den Westen dazu anregen, seine militärischen Interventionen zu überdenken, meint Kolumnist Radu Carp in Contributors:
„Autoritäre Regime haben derzeit einen großen strategischen Vorteil: Sie verfügen über ein riesiges militärisches Arsenal, ohne intern zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil demokratische Kontrollmechanismen fehlen, und sie können unbegrenzt Gewalt anwenden, um ihre strategischen Ziele zu erreichen. ... Bei den Angriffen der Taliban handelt es sich ausschließlich um bewaffnete, klassische Angriffe, doch die meisten Reaktionen, die zum Scheitern von Militäroperationen geführt haben, sind hybrider Natur. Wie man künftig auf solche hybride Bedrohungen reagieren will, bleibt eine offene Frage.“
Es war alles umsonst
Militärinterventionen bringen nur selten echten Wandel, bilanziert The Independent:
„Falls man aus den letzten 20 Jahren westlicher Militärinterventionen Lehren ziehen kann, dann sicherlich die, dass andere Länder ihre eigene Zukunft aufbauen müssen; dass Hilfe, auch wenn sie gut gemeint ist, nur solange wirkt, wie sie im Land auch Unterstützung genießt; und dass nahezu keine Regierung, die auf Kräfte von außen setzt, den Abzug überlebt. ... Die künstlich unterbrochenen Konflikte setzen sich nach dem Abzug wahrscheinlich einfach da fort, wo sie unterbrochen wurden. Also in diesem Fall nach 9/11 mit dem Versuch, die Taliban zu besiegen. Trotz allem Gerede von sozialem Fortschritt scheint Afghanistan der Stabilität leider keineswegs näher gekommen zu sein.“
Realitätsfremde Diskussion über Abschiebungen
In Deutschland ist gerade ein Streit darüber entbrannt, ob Straftäter und islamistische Gefährder weiterhin nach Afghanistan abgeschoben werden sollen. Doch das ist alles Augenwischerei, betont tagesschau.de:
„In Afghanistan wird bald ein Bürgerkrieg toben, den die afghanischen Sicherheitskräfte nicht gewinnen können. Trotz dieses Wissens dorthin abzuschieben, ist unmenschlich. Dem Wähler vorzugaukeln, es sei möglich, die bisherige Flüchtlingspolitik weiterzufahren, ist eine Täuschung. Millionen Afghanen drohen zu Flüchtlingen zu werden. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei wird sie auf ihrem Weg in die EU nicht mehr aufhalten. Und dann wird auch der Wähler mehr erwarten, als dass die Bundesregierung sechs Männer in einen Flieger nach Kabul setzt.“
Es braucht mehr als Bodentruppen
The Times zieht ernüchternd Bilanz über die Militärinterventionen des Westens in der Region:
„Wir brauchen zuverlässige, belastbare Streitkräfte und müssen bereit sein, unsere wesentlichen Interessen zu verteidigen. Die Westmächte haben jedoch dabei versagt, andere Staaten aufzubauen. ... Immer wieder wurden Einsätze mit einer großen Zahl westlicher Bodentruppen beschlossen - und brachten dann keinen Erfolg. Kurze, intensive und begrenzte Interventionen mit Bodentruppen wird es wohl weiter geben. Für länger dauernde Einsätze wird sich der Westen jedoch wahrscheinlich auf ein Hexengebräu aus Diplomatie, finanziellen Anreizen, Angriffen aus der Luft, Spionen und Söldnern verlassen müssen.“
Illusion Demokratie-Export
Westliche Werte mit Truppen nach Afghanistan zu bringen, funktioniert einfach nicht, bemerkt Jyllands-Posten:
„Der Krieg in Afghanistan zog sich über 20 Jahre hin - aus heutiger Sicht hätte der Westen auch nach zehn Jahren den Rückzug antreten können, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Heere von Invasoren haben in Afghanistan über Jahrhunderte hinweg immer wieder Schiffbruch erlitten. Der Westen fühlte sich jedoch über die Geschichte erhaben und hat sich und die Strahlkraft seiner Werte überschätzt. Hier liegt eine wichtige Erfahrung für die Zukunft. Wer hat eigentlich gesagt, dass die Afghanen an Demokratie westlicher Prägung interessiert wären?“
Ankara muss eingreifen
Die Türkei muss jetzt schnellstmöglich handeln, um eine Katastrophe zu verhindern, kommentiert Habertürk:
„Wenn die Situation so weitergeht, dann steht die Türkei bei einer möglichen Mission vor dem Problem, dass ein Großteil des Landes mit Ausnahme von Kabul und Umgebung von den Taliban kontrolliert wird! Laut Weltbank betrug die Armutsquote im Land 50 Prozent, nun wird erwartet, dass sie 70 Prozent übersteigen wird. ... Jetzt, wo sich alle internationalen Einheiten zurückgezogen haben, ist es lebenswichtig, dass die Türkei einen Raum für Diplomatie und Verhandlungen schafft und schnellstmöglich etwas unternimmt, um insbesondere dem menschlichen Drama im Norden des Landes Einhalt zu gebieten.“
Rumäniens Strategen müssen Rede und Antwort stehen
Wie alle Alliierten hat auch Rumänien seine Soldaten aus den Einsatzgebieten in Afghanistan abgezogen. Zeit für unbequeme Fragen, meint der Journalist Cristian Unteanu in Adevărul:
„Wer und warum hat denn die Weiterführung der Missionen jenseits einer vernünftigen Hoffnung beschlossen? Diese Fragen müssen wir auf nationaler Ebene stellen: unseren politischen Anführern, die für die Entscheidung insgesamt zuständig waren, aber auch den militärischen Anführern. ... Oder vielleicht hatten sie aus unterschiedlichen Gründen Angst? Denn wer sind schließlich die Rumänen, etwas zu sagen, wenn die Amerikaner schon etwas entschieden haben? Werden wir die offiziellen Analysen vom Verteidigungsministerium zur Afghanistan-Episode sehen dürfen? Wenigstens post factum?“