Was passiert mit den Menschen in Afghanistan?
Begünstigt durch das Machtvakuum, das der Abzug der westlichen Truppen hinterlassen hat, haben die Taliban bereits wieder rund die Hälfte Afghanistans unter ihre Kontrolle gebracht. Mehrere Tausend Personen wurden dabei verletzt oder getötet. Europas Presse beleuchtet, welche Menschen jetzt besonders gefährdet sind und welche Verantwortung der Westen für ihr weiteres Schicksal trägt.
Europa muss Schutzsuchende aufnehmen
Die Europäer tragen eine politische und moralische Verantwortung, den Menschen zu helfen, die jetzt vor den Taliban fliehen, betont der Spiegel:
„Die EU sollte deshalb zweierlei tun. Sie sollte mit der Erdogan-Regierung, ähnlich wie nach 2015, ein Abkommen aushandeln, das der Türkei Hilfszahlungen in Aussicht stellt, wenn sie Afghaninnen und Afghanen im Gegenzug Flüchtlingsschutz gewährt und den Arbeitsmarkt sowie das Gesundheits- und Bildungssystem für sie öffnet. Zugleich sollten Deutschland und andere EU-Staaten selbst gezielt Geflüchtete aus Afghanistan aufnehmen, insbesondere all jene, die für ausländische Institutionen wie die Bundeswehr oder die GIZ gearbeitet und sich dadurch zusätzlich in Gefahr gebracht haben.“
Türkei ist nicht das Flüchtlingscamp der EU
Österreichs Kanzler Kurz hat in einem Zeitungsinterview erklärt, für Flüchtlinge aus Afghanistan seien "Nachbarstaaten" wie die Türkei ein besserer Ort als die EU. Yetkin Report zeigt sich empört:
„Woher nehmen rechte und rassistische Politiker den Mut, die Türkei zum Türsteher gegen Flüchtlinge zu ernennen? Es ist nicht nur ihre eigene heuchlerische, diskriminierende und zunehmend rassistische Ideologie, die ihnen diesen Mut gibt, sondern auch die falsche Flüchtlingspolitik, die die Türkei in den letzten zehn Jahren verfolgt hat. Die Erklärung des türkische Außenministerium 'Die Türkei wird nicht das Grenz- oder Flüchtlingscamp der EU werden' ist richtig, aber sie ist überfällig. Das hätte vor zehn Jahren gesagt werden müssen, als der syrische Bürgerkrieg startete und die Türkei in diese Krise gezogen wurde.“
Wahlkampftaktik verhindert Hilfe
Tschechien ist bislang unentschlossen, ob es Afghanen, die für die tschechischen Soldaten in dem Land tätig waren, nach dem Truppenabzug Asyl gewähren soll. Dafür wird kurz vor den Wahlen wieder auf die Angst der Tschechen vor Migranten gesetzt, beklagt Hospodářské noviny:
„Tschechiens Politik beweist Kleinheit und Unmoral: Die Regierung zögert, Dolmetschern tschechischer Soldaten zu helfen, die sie mit ihren Familien in Sicherheit bringen sollte. Andere Verbündete haben damit kein Problem. In Tschechien vermischt man das Problem mit den Migrationsängsten vor den Wahlen. Die Inhaftierung einer größeren Gruppe von Flüchtlingen ließe sich da im Wahlkampf besser verkaufen.“
Der Westen gibt die Frauen auf
Den Afghaninnen steht eine Rückkehr in die Hölle bevor, warnt Le Monde:
„Während ihrer fünfjährigen Herrschaft von 1996 bis zur US-Intervention haben die Taliban den afghanischen Mädchen und Frauen die strengstmögliche Interpretation des islamischen Gesetzes und eine völlige Unterwerfung aufgezwungen und Rebellinnen hart bestraft. Bildung für über achtjährige Afghaninnen wurde ebenso untersagt wie Erwerbsarbeit. Die USA rühmen sich damit, zu ihrer Befreiung beigetragen zu haben, indem sie ihnen die Aussicht auf Gleichstellung eröffnet haben. Die Rückkehr der Taliban wäre ein gewaltiger Rückschlag. Was auch immer Joe Biden sagt, in dieser Hinsicht kommt der Rückzug einer Aufgabe gleich.“