Impfpflicht: Was treibt Franzosen auf die Straße?
In mehreren französischen Städten haben am Wochenende erneut Menschen gegen die Impfpflicht im Gesundheitssektor und gegen den Gesundheitspass protestiert. Laut Innenministerium waren es rund 240.000. Der Verfassungsrat hatte die Maßnahmen zuvor gebilligt. Doch bei den Demonstrationen geht es um mehr als den Gegensatz zwischen Pandemiebekämpfung und persönlicher Freiheit, beobachten Kommentatoren.
Pandemie als Brandbeschleuniger
Die Demonstrationen in Frankreich sind Teil einer europaweiten Entwicklung, beobachtet der Journalist Iulian Chifu in Adevărul:
„Nationalismus, Isolationismus und Xenophobie sind die Haupttrends, die sich als Auswirkungen anderthalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie zeigen. ... Während die einen den Ausnahmezustand dazu genutzt haben, ihre politischen Positionen zu stärken und Opposition und Gegner zu beseitigen, machen andere einen Fehler, indem sie exzessive Beschränkungen einführen und aufrechterhalten, die den Lebensstil verändern, den es vor der Pandemie gab. ... Derartige Exzesse können ideologische Extreme begünstigen und dazu führen, dass die Politik immer weniger akzeptiert wird.“
Rechte kapern die Debatte um Freiheit
Der Schriftsteller und Philosoph Josep Ramoneda ärgert sich in El País darüber, dass Linke und Liberale sich nicht engagiert genug in die Debatte einbringen:
„Wie können wir der extremen Rechten erlauben, das Wort Freiheit an sich zu reißen? … Diese Situation zwingt uns einmal mehr, die Liberalen und die Linken zu fragen, warum sie unbequeme Debatten scheuen und so Wählerstimmen an den reaktionären Populismus verschenken. … Im Kampf gegen die Pandemie ist es nicht einfach, ein Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Rechten zu finden. … Doch das Vermeiden einer öffentlichen Diskussion über diese Themen entwertet die Politik und normalisiert die Entwicklung hin zu einem postdemokratischen Autoritarismus.“
Freiwilligkeit immer besser als Zwang
Die langfristige Perspektive sollte nicht vergessen werden, wenn über Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entschieden wird, fordert der Kolumnist Fraser Myers in The Daily Telegraph:
„Was heute sinnvoll erscheint - Lockdown, Schulschließungen und sogar Impfpflicht - könnte in Zukunft das Vertrauen in die Regierung und in das öffentliche Gesundheitssystem untergraben. Die Impfpflicht macht die wunderbaren, lebensrettenden Vakzine zu Werkzeugen des Zwangs und des Autoritarismus. Sie macht das Gesundheitssystem zu einem Feind der Freiheit und der Arbeitnehmerrechte. Deshalb ist das Prinzip der Freiwilligkeit immer das Beste.“
Gefährlicher Vertrauensverlust
Die Proteste verheißen nichts Gutes über die Pandemie hinaus, fürchtet The Guardian:
„Umfragen zeigen, dass rund ein Drittel der Franzosen Verständnis für die Proteste hat. Eine beunruhigend große Minderheit scheint das Vertrauen in die politische Klasse verloren zu haben, wie auch die bemerkenswert hohe Zahl der Stimmenthaltungen bei den jüngsten Kommunalwahlen belegt. Die Bedrohung durch Covid wird hoffentlich verschwinden. Doch wenn Staaten und Regierungen den so wichtigen Übergang zu Netto-Null-CO2-Emissionen angehen, werden Zustimmung und Vertrauen aller Bürger entscheidend sein, da sich das tägliche Leben tiefgreifend ändern wird. Die Proteste in Frankreich sind ein Warnsignal, dass dies möglicherweise nicht einfach wird.“
Der Sündenbock ist immer der gleiche
Corriere della Sera beobachtet ein Erstarken des Antisemitismus in der französischen Bevölkerung:
„Egal, ob sie in gelben Westen gegen Benzinpreiserhöhungen oder im Casual Look gegen den Gesundheitspass protestieren, sie haben immer nur eine Erklärung für die Misere der Welt: die jüdisch-freimaurerische oder auch nur jüdische Verschwörung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis am vierten Samstag der Demonstrationen in Frankreich die 'jüdische Oligarchie' wieder ins Fadenkreuz geriet, schuldig wurde an der Pandemie, der Zwangsimpfung und den Einschränkungen für diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen. ... Trugen die Impfgegner zunächst völlig unangemessen gelbe Sterne, so riefen sie am Samstag antisemitische Parolen und prangerten die 'Vaterlandsverräter' an.“
Reaktion auf autoritäres Krisenmanagement
Den von Woche zu Woche wachsenden Protest hat sich Macron durch seinen Regierungsstil selbst eingehandelt, kritisiert Edwy Plenel, Chefredakteur von Mediapart:
„Die Regierung hat die Chance nicht genutzt, eine demokratische Gesundheitspolitik einzuführen, die auf Dialog und Einbindung der Hauptbetroffenen basiert. … Die Wut gegen eine Gesundheitspolitik, die als illegitim beurteilt wird, da man sie als autoritär empfindet, ist - so verabscheuenswert oder verantwortungslos einige ihrer Ausdrücke sein mögen - die Rechnung für ein wahrhaft autoritäres Covid-19-Krisenmanagement, das um die Person des Präsidenten herum konzentriert ist, der zum einzigen Entscheidungsträger befördert wurde und jede Debatte und Transparenz, jegliche Demut und Pädagogik vermissen lässt.“
Dabei ist Macron gar kein Präsident der Reichen
Die Gesundheitspolitik des französischen Präsidenten ist gar nicht so schlecht, entgegnet Le Soir:
„Emmanuel Macron wurde oft als Präsident der Reichen bezeichnet. Im Bereich Gesundheit ist dieser Vorwurf jedoch ungerechtfertigt. Vor ihm hat noch kein Staatschef die vollständige Kostenübernahme für Brillen und Zahnprothesen beschlossen. Corona stellt ihn auf die Probe. Er hat es in der Hand, denjenigen, die auf die Straße gehen und ihm Freiheitsbeschränkung vorwerfen, zu beweisen, dass seine Entscheidungen Gleichheit fördern.“
Am Pass an sich führt kein Weg vorbei
L'Opinion kann den Argumenten der Demonstranten nicht folgen:
„[Der Gesundheitspass] ist durchaus streng. Das liegt aber daran, dass nur die Hälfte der Bevölkerung zwei Dosen erhalten hat. Die Impfung verhindert zwar eine Ansteckung nicht, ist aber eine Garantie, nicht ins Krankenhaus eingewiesen zu werden. ... Demonstrieren ist ein Recht. Doch sich am Wort 'Freiheit' zu berauschen und dafür die der anderen einzuschränken, ist inakzeptabel. Die Ausweitung des Gesundheitspasses mag insbesondere auch hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung diskutabel sein. Doch sie erlaubt es, wenn sie von den Weisen des Verfassungsrats abgesegnet wird, allen, die sich für eine Immunisierung entschieden haben, so frei wie möglich zu leben mit diesem Virus, das sich leider langfristig eingenistet hat. Das ist ein wesentlicher Punkt.“
Ungefährlich für Macron
Die Regierung kann gelassen bleiben, meint der Frankreich-Korrespondent der taz, Rudolf Balmer:
„[D]ie Staatsführung [weiß] in Sachen Coronamaßnahmen eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. ... Entscheidend ist aber, dass es bei den Protesten gegen die Coronaregeln kein einheitliches Profil der Gegner*innen gibt, kein Programm und außer dem Ruf nach Freiheit nicht einmal eine gemeinsame Forderung. Die extrem heterogene Herkunft und die divergierenden Absichten und ideologischen Zielsetzungen der Demonstrierenden ist vermutlich ihre größte Schwäche – und umgekehrt der Vorteil der kaum beeindruckten Staatsmacht.“
Die Zeichen stehen auf Einheit
Trotz wachsender Proteste erweist sich die politische Stimmung in Frankreich insgesamt als wenig konfrontativ, beobachtet auch Le Monde:
„Diesmal kann der Staatschef sich wirklich auf eine schweigende Mehrheit stützen, die impfwillig ist. Für La France insoumise wie für den Rassemblement national besteht die Versuchung, diesen Protest aufzugreifen. Dies zahlt sich aber nicht unbedingt aus, da die Bewegung auf weniger Verständnis stößt, als die vorherigen Proteste. Es ist, als erfordere der Ernst der Lage ein Mindestmaß an politischer Einheit, so wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs. ... Die meisten wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen der letzten eineinhalb Jahren bergen wenig Diskussionspotenzial. Alle, allen voran die Regierung, mussten ihren Teil beitragen.“
Kluges Wahlkalkül
Rzeczpospolita beleuchtet die Politik Macrons im Kontext der Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr:
„Emmanuel Macron, der sich im nächsten Jahr zur Wiederwahl stellt, hat sich als Trendsetter auf dem Gebiet der Beschränkungen für Ungeimpfte erwiesen. Und er hat schon viel erreicht. ... Dank Macrons Entscheidung hat Frankreich bei der Zahl der vollständig Geimpften plötzlich die Vereinigten Staaten überholt. ... Wenn, wahrscheinlich im Herbst und Winter, die Medienberichte darüber zurückkehren, wie sich Friedhöfe in Windeseile füllen und Menschen nicht gerettet werden konnten, wird die wahlpolitische Bedeutung des Themas steigen. Es scheint, dass Macron gut kalkuliert hat.“