Belarus-Krise: Darf man mit Diktatoren verhandeln?
Die dramatische Lage an der belarusisch-polnischen Grenze scheint sich etwas zu entspannen. Belarus brachte einige der von Hunger und Kälte bedrohten Migranten in Hallen unter. Welche Rolle dabei Telefonate zwischen Bundeskanzlerin Merkel und dem belarusischen Machthaber Lukaschenka sowie zwischen Frankreichs Präsident Macron und dem russischen Amtskollegen Putin spielten, ist unklar. Die Telefondiplomatie spaltet die europäische Presse.
Ein großer Fehler
Polityka sieht Merkels Bemühungen skeptisch:
„In Polen, insbesondere im regierenden Lager, wurde die Initiative der Bundeskanzlerin weniger als Verrat, sondern vielmehr als schwerer Fehler angesehen. Als erstes westliches Staatsoberhaupt, das so engen Kontakt mit Lukaschenka aufgenommen hat, ließ Merkel durchblicken, dass Europa beginnt, Lukaschenkas Erpressung nachzugeben. Man ist nicht mehr weit davon entfernt, ihn als Partner zu behandeln und den Diktator anzuerkennen. Darüber hinaus entsteht der Eindruck eines Konzerts der Großmächte, da die Krise an den Grenzen Litauens, Lettlands und Polens ohne deren Beteiligung von unter anderem den Regierungen Deutschlands, der Vereinigten Staaten und Russlands verhandelt wird.“
Alles andere wäre verantwortungslos
Die Tageszeitung Die Welt kann nicht nachvollziehen, dass einige Merkel vorwerfen, Lukaschenka mit ihren Anrufen als legitim anzuerkennen:
„Der Vorwurf ... mag zwar in den Augen starrsinniger Gesinnungsethiker zutreffen, doch läuft diese moralisierende Außenpolitik stets Gefahr, im Triumph der guten Gesinnung über die Gesetze des Verstandes zu enden. Man muss Lukaschenko faktisch (nicht de jure!) anerkennen, wenn er im Begriff ist, die EU-Außengrenze zu überrennen oder gar einen Krieg vom Zaun zu brechen. Wer eine Krise dieses Ausmaßes nicht mit allen Mitteln zu entschärfen versucht, ohne dabei klein beizugeben, der mag zwar seiner Überzeugung treu bleiben, handelt aber zutiefst verantwortungslos.“
Berlin und Paris müssen es mal wieder richten
Merkel und Macron bestimmen die EU-Außenpolitik, analysiert Der Standard:
„Humanitäre Hilfe hat Vorrang. ... Dass die Durchsetzung dieses Prinzips gelungen ist, ist der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu verdanken. Sie hat per Telefon auf Lukaschenka eingewirkt, obwohl die EU ihn wegen der Wahlfälschung 2020 nicht als Präsidenten anerkennt. Er hat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin geredet, der daraufhin eine Order an Lukaschenko ausgab. So funktioniert gemeinsame europäische Realpolitik in der Außen- und Sicherheitspolitik. ... Berlin und Paris müssen es immer wieder richten. ... Lukaschenka wurde nicht anerkannt oder aufgewertet, wie behauptet wird. Er ist eingeknickt, von Putin gezwungen.“
Keine Legitimation - aber auch kein Nutzen
Die Initiative der Bundeskanzlerin war die Mühe nicht wert, findet Lietuvos rytas:
„Selbstverständlich hat Lukaschenka diesen Anlass für seine Propaganda ausgenutzt, aber sie ist an die Belarusen gerichtet. ... Wurde damit das Regime von Deutschland als legitim anerkannt? Ganz klar: Nein. Das Gespräch mit ihm ändert im Wesentlichen nichts. Vielleicht wollte Merkel ihm mit diesem Dialog die Chance geben, sein eigenes politisches Gesicht zu bewahren. ... So oder so, bis jetzt sehen wir keinen praktischen Nutzen von diesem Gespräch. Im Gegenteil - kurz danach stürmte eine große Gruppe von Migranten die Grenze zu Polen und ein Beamter wurde verletzt. Wahrscheinlich verstärkt der Diktator von Belarus seinen Druck auf die EU noch, damit man mit ihm verhandelt und die Sanktionen abschafft.“