Ein Jahr Biden: Stillstand statt Aufbruch?
Ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist US-Präsident Joe Biden mit gravierenden Problemen konfrontiert: Innenpolitisch konnte er sozial- und umweltpolitische Reformen nicht durchsetzen. Außenpolitisch bleibt ein unrühmlicher Rückzug aus Afghanistan in Erinnerung. Zudem gilt es, die akute Gefahr eines Einmarsches in die Ukraine in den Griff zu bekommen. Die europäische Presse zieht sehr kritisch Bilanz.
Verpatzte Wirtschaftsagenda
La Repubblica zählt Bidens Baustellen auf:
„Bidens Probleme begannen mit Afghanistan, haben sich aber durch die anhaltende Covid-Epidemie, Engpässe in der Versorgungskette, die explodierende Inflation und Putins Provokationen in der Ukraine verschlimmert. … Der Hauptgrund aber ist das Scheitern der Verabschiedung des 1,75-Billionen-Dollar-Pakets 'Build Back Better', das die Gesellschaft reformieren und die Ungleichheit beseitigen sowie dem Populismus und Souveränismus, auf den Trump seinen Sieg 2016 stützte, den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Sogar einige Demokraten sagen, dass Biden Kompromisse mit Konservativen und Liberalen in seiner eigenen Partei eingehen muss, um Erfolge in der Gesetzgebung zu erzielen. ... Die gestrige Konferenz war ein erster Versuch, aber es müssen nun Taten folgen.“
Softie Biden schadet dem Ansehen der USA
Joe Bidens erstes Jahr im Amt war besonders außenpolitisch eine Blamage, meint The Daily Telegraph:
„Was die Feinde Amerikas angeht, so sehen diese Biden als einen Schwächling, dessen Zeit im Amt eine willkommene Gelegenheit bietet, Amerika herauszufordern und die strategische Macht des Landes zu untergraben. Es ist kein Zufall, dass mit dem früheren Senator aus Delaware im Weißen Haus nun die russischen Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen werden, China offen mit einer Invasion Taiwans droht und der Iran sein Atomprogramm zügig ausbaut. ... Unter Donald Trump achteten die Gegner der USA darauf, keinen Konflikt mit einem Präsidenten vom Zaun zu brechen, der oft unberechenbar und offensichtlich auch bereit war, Amerikas militärische Möglichkeiten einzusetzen.“
Endlich loslegen
Biden muss in die Gänge kommen und Mut zeigen, findet The Irish Independent:
„Nur wenige Präsidenten mussten sich einer so langen Aufgabenliste stellen wie er. Er hat eine gespaltene Nation, eine entzweite Partei und eine Pandemie geerbt, die das Land in Aufruhr versetzt hat. … Biden gelangte mit dem Auftrag ins Amt, der Mr. Alles-Reparierer zu werden. Amerika brauchte einen Heiler und einen politischen Handwerker, der in der Lage ist, die tiefen Gräben zu überbrücken. … Aber seine Fortschritte waren zu langsam und die Menschen verlieren die Geduld. Viele politische Führer haben erst zu spät erkannt, dass es viel schmerzhafter ist, zurückzublicken und sich zu fragen, ob mehr gegangen wäre, als es zu versuchen und vielleicht zu scheitern. “
Demokraten tragen Verantwortung für die Krise
Dem Präsidenten bleibt nicht mehr viel Zeit, analysiert Politiken:
„Der US-Präsident steckt also in der Krise. Und mit der Aussicht auf eine Niederlage bei den anstehenden Midterm-Wahlen bleiben ihm und den Demokraten eigentlich nur ein Jahr, um wieder auf Kurs zu kommen. Dafür ist nicht nur Joe Biden verantwortlich, sondern zu einem großen Teil auch die Demokraten, die gegen ihn im Kongress arbeiten. Sie müssen erkennen, dass sie gerade jetzt den Weg für Donald Trump ebnen. Weder die Vereinigten Staaten noch die Welt können sich das leisten. “
Brüssel muss Abhängigkeit reduzieren
Die EU muss dringend ihre Eigenständigkeit stärken, drängt L'Echo:
„Die Zeiten des wohlwollenden amerikanischen Schutzpatrons sind definitiv vorbei. Die Europäer müssen mehr als je zuvor auf ihre strategische Eigenständigkeit setzen. Genau das ist die Botschaft von Emmanuel Macrons Rede am Mittwoch im Europaparlament. Der französische Präsident hat tausendfach recht. Ob in Sachen Gestaltung seiner Grenzpolitik, Reaktion auf äußere Bedrohungen (aus Russland, China, von Islamisten...), Verteidigung seiner Werte, Sicherung seiner wirtschaftlichen Entwicklung und Bewältigung der Klimawende ist Europa nur dann stark, wenn es geeint und souverän ist. Nicht als Gegenpol zu den USA, sondern ohne von ihrem Gutdünken abzuhängen.“