Muss Europa auf Energie aus Russland verzichten?
Die USA wollen keine Energie mehr aus Russland importieren. Die EU schließt sich dem Embargo nicht an, will aber die Einfuhr russischen Gases bis Ende des Jahres um zwei Drittel reduzieren und deutlich vor 2030 unabhängig von russischen fossilen Brennstoffen sein. Während einige Kommentatoren mahnen, nicht zu sehr zu zaudern, glauben andere, dass das Embargo eh nicht helfen würde.
Den Gashahn genau jetzt zudrehen
Warum Europa beim Importstopp für russisches Öl und Gas rasch handeln muss, erläutert Expressen:
„Infolge der schon beschlossenen Sanktionen hat Russland auf den Großteil seiner Valutareserven keinen Zugriff. Ein schneller Importstopp würde es dem Kreml unmöglich machen, eine neue Kriegskasse anzulegen. ... Außerdem naht der Frühling, der Heizbedarf geht zurück - Europas Gasvorräte reichen ohne russische Importe noch für gut zwei Monate. In der warmen Jahreszeit können die Lager dann, zumindest teilweise, mit Flüssiggas aus anderen Teilen der Welt gefüllt werden. Gleichzeitig hat man Zeit, kürzlich abgeschaltete Kernkraftwerke und fossile Anlagen wieder in Betrieb zu nehmen und Energiesparmaßnahmen für den Winter zu planen.“
Alles, was nötig ist
De Standaard fordert noch mehr Entschlossenheit im Vorgehen gegen Russland:
„Zu Beginn schien es noch, dass der Ruf 'Wir schaffen das' das ruhige Selbstvertrauen einer mächtigen atlantischen Gemeinschaft ausstrahlen konnte. Aber für die Konfrontation, in der wir nun gelandet sind, reicht der Voluntarismus von Angela Merkel von 2015 nicht mehr aus. Dieser historische Moment erfordert das entschlossene Versprechen, mit dem Mario Draghi, der damalige Vorsitzende der EZB, 2012 die Eurokrise bezwang: 'Whatever it takes'. Vertrauen in die eigene Kraft kann sehr motivierend sein. Aber angesichts der russischen Brutalität wird das nicht reichen.“
Probleme lösen geht anders
Die Wirtschaftssanktionen werden in Moskau kaum etwas bewegen können, glaubt Ökonom Pierre-Yves Geoffard in Libération:
„Könnte eine Rezession, selbst eine schwere, zu einem Regimewechsel oder einer internen Revolution führen, die Putin von der Macht entfernt? Die Geschichte suggeriert uns anderes: Der Castrismus hat in Kuba trotz jahrzehntelangem US-Embargo weiterhin die Macht in den Händen; in Venezuela erlebt die Bevölkerung eine Notlage, was durch die Sanktionen nicht besser wird, und trotzdem ist Maduro auf Chávez gefolgt; im Iran scheint das Mullah-Regime nicht vom Zusammensturz bedroht... Kurzum, es kommt fast magischem Denken gleich, auf Wirtschaftssanktionen zu setzen, um dieses Problem an der Wurzel zu packen.“
Die Aufgabe des Jahrzehnts
Europas umwelt- und sicherheitspolitische Energiewende muss zur Priorität werden, fordert Francois de Smet, Vorsitzender der Partei Démocrate Fédéraliste Indépendant in Le Vif / L'Express:
„Die europäischen Demokratien müssen dringend in ihrer Energieversorgung unabhängig werden, was nur durch weitere massive Investitionen in erneuerbare Energien möglich ist. ... Und durch die Beibehaltung der Kernenergie, zumindest in der Übergangszeit, aber auch längerfristig, wenn die neue Generation von Kraftwerken ihre Versprechen hält. Dass die Europäische Union in diesem Bereich unabhängig wird, und zwar durch die solidarische Zusammenlegung unserer erneuerbaren und atomaren Energieressourcen, muss zur zentralen Aufgabe dieses Jahrzehnts werden.“
Scholz verschwendet wichtige Zeit
Man sollte sich jetzt dringend auf den kommenden Winter ohne russische Importe vorbereiten, mahnt Eesti Päevaleht:
„Der deutsche Bundeskanzler Scholz hat gestern gesagt, er befürwortet kein Embargo des russischen Gas und Erdöls. Ähnlich denkt die ungarische Führung. Deutschland und Ungarn irren sich. Je früher man sich von der Illusion trennt, dass russisches Erdöl und Gas bald wieder zum Fundament der europäischen Energieversorgung gehören, umso mehr Zeit gewinnt man, um Pläne für den kommenden Winter zu machen.“
Leben in Freiheit gibt es nicht kostenlos
Den konsequenten Verzicht auf Erdgas, Kohle und Öl aus Russland fordert tagesschau.de:
„[U]nd zwar möglichst bald. Ansonsten fließt weiterhin jeden Tag eine Milliarde Euro in Putins Kriegskasse. ... Energie- und Wirtschaftsexperten sagen, das sei machbar, aber es würde für alle Bürger und Unternehmen teuer, vielleicht sogar sehr teuer. ... Spätestens seit der russischen Invasion muss allen klar sein, dass es ein Leben in Freiheit und Recht nicht kostenlos gibt. Die Menschen in der Ukraine zeigen gerade der Weltöffentlichkeit, dass sie sogar bereit sind, mit dem höchsten Preis für die Freiheit zu zahlen: mit ihrem Leben. Und wir sorgen uns, ob die Heizung im nächsten Winter nicht ganz so warm bleibt oder das Benzin noch teurer wird?“
Russland isolieren, wo immer es geht
Experten der auf Energieberatung spezialisierten Dixi Group fordern in Ukrajinska Prawda:
„Die großen Öl- und Gaskonzerne sollten sich aus russischen Projekten zurückziehen, um das Technologie-Knowhow nicht mit Russland zu teilen. ... Weltweit ist die Zusammenarbeit mit Rosatom [staatliche Agentur für Atomenergie Russlands] und seinen Tochtergesellschaften einzustellen. ... Wer aus Russland Energie importiert, sollte diese Importe auf Null reduzieren. Nicht alle Länder können es sich leisten, vollständig auf russisches Öl oder Gas zu verzichten. Aber alle Länder könnten Russland als letztes Land auf die Liste der Länder setzen, aus denen sie importieren. ... Die USA, die EU, Japan und andere Länder sollten Banken verbieten, die Kredite für Energieprojekte in Russland oder mit russischen Unternehmen zu vergeben.“
Es fehlt an Alternativen
Vor einem voreilig verhängten Embargo warnt The Daily Telegraph:
„Die Menschen im Westen sind entsetzt über die Vorgänge in der Ukraine. Doch welche Einschränkungen in ihrem eigenen Leben sind sie bereit, auf sich zu nehmen, um ihrer Besorgnis Ausdruck zu verleihen? Es kann durchaus möglich sein, Alternativen [zu Energieimporten aus Russland] zu finden, aber das wird einige Zeit dauern - vorausgesetzt, andere Produzenten spielen mit. Ein Embargo gegen russisches Öl hätte massive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. ... Und es besteht noch eine weitere Gefahr: Ein solcher Schritt könnte Putins innerrussische Argumentation bestätigen, dass sich der Westen gegen Russland verschworen habe.“